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Der Glanz der Dinge

Landschaft an der ElbeViele Stimmungen des Lebens, die an uns herantreten oder in uns auftreten, sind Hinweise auf tiefere, verborgene Wirklichkeiten, die sich der Erkenntnis zunächst entziehen. Ihr Auftreten geschieht wie aus einem Zwischenbereich heraus, aus dem sie zu stammen scheinen: Einerseits erleben wir sie in einer Art, die wir gewohnt sind, als „in uns“ zu bezeichnen. Sie scheinen Bestandteil unseres eigenen See-lischen zu sein. Sie können uns erfreuen, kräftigen und begeistern. Oder sie quälen und beherrschen uns. Wir sind ihnen ausgesetzt und unterliegen ihnen. Andererseits scheinen sie zugleich häufig Ursachen zu haben, die „von außen“ an uns herantreten. Oder sie sind änderbar, ja behebbar durch äußere Mittel und Maßnahmen: wenn die Sonne endlich wieder kommt, wir einen Gang gemacht haben oder, bei manchen, nach einer Zigarette oder dem obligaten Morgenkaffee.  Wenn wir Stimmungen näher zu betrachten beginnen, bemerken wir in dieser Hinsicht etwas wie Schwerpunkte ihres Entstehens und ihrer Anwesenheit. Die eine Art tritt scheinbar ganz „von innen“ auf, scheint ausschließlich mit seelischen oder gar leiblichen Faktoren zusammenzuhängen und ist unter Umständen durch entsprechende Maßnahmen steuerbar. Eine andere Art scheint mit „uns selbst“ kaum etwas zu tun zu haben. Sie tritt in einer bestimmten Landschaft an uns heran, vor einem Kunstwerk, in dieser oder jener menschlichen Umgebung oder angesichts eines Sonnenuntergangs im Gebirge. Natürlich wissen wir, daß ein Zusammenhang mit uns besteht. Denn wir selbst sind es, welche gerade dort, an jenem bestimmten Ort, jene besondere Stimmung empfinden. Werden andere dasselbe empfinden?

Objektiv – subjektiv?

Bei solchen in der Welt um uns begründeten Stimmungen, die uns wie von außen erfassen, gewinnen wir leicht den Eindruck, wir hätten es mit etwas „Objektivem“ zu tun, das von uns unabhängig ist, etwa in der Stimmung einer Landschaft, einer Stadt, einer Vollmondnacht. Bei den erkennbar dem eigenen Seelischen entstammenden, zum Teil auch bei leibgebundenen Stimmungen hingegen ist dies anders. Wir kämen kaum auf den Gedanken, es träte uns in ihnen eine Aussage über die Welt entgegen, als hätten wir in ihnen etwas „Objektives“. Wir werten sie als „subjektive“ Binnenphänomene der eigenen seelischen oder seelisch-leiblichen Verfasstheit, die uns hinsichtlich der eigenen Erkenntnisfähigkeit eher im Wege stehen können.
Der erfahrbare Doppelbezug der Stimmungen zur Welt des sogenannten Objektiven wie der des sogenannten Subjektiven, ihr subtiles Verknüpftsein mit diesen Welten, ja ihr Hin und Her zwischen beiden, gehört zu ihren wesentlichen Grundzügen. Sie können Farben und Formen in einer Landschaft, ja deren Klängen und Geräuschen nah und verwandt erscheinen und dadurch einen gewissen Gegenstandsbezug, beinahe den Charakter von Gegenständlichkeit erhalten.
Oder sie können, in ihrer negativen Spielart den Launen verwandt, vielleicht als Verstimmtheit auftreten, ganz subjektives seelisches Innenphänomen, scheinbar nicht einmal veranlasst durch irgendetwas in der sogenannten äußeren Welt. Meist jedoch spielt beides ineinander. Ausschließende begriffliche Objekt- und Subjektbezüge sind untauglich zum Erfassen von Stimmungen. Diese sind lebendig-bewegt, manchmal traumhaft, grenzüberschreitend. Sie leben im Verbinden und im Dazwischen, im Verweben und Umfangen, im Auflösen und Steigern. Sie sind gleichsam „darum herum“, „darüber“, die Gegenstände umspielend, sie umgebend, fast greifbar – und doch jenseits aller Gegenständlichkeit, „nur“ Schein, gleichsam Aura, eben: Stimmung, Atmosphäre.

Der „Glanz“ der Dinge

Ein Seitenblick noch, jedoch zentral: die musikalische Stimmung – völlig unabhängig von „subjektiver“ seelischer Stimmung. Und doch aufs Engste verwandt den vielfältigen Qualitäten menschlichen seelischen Gestimmtseins, auf der Grundlage entsprechender Empfindungen erlebbar und beschreibbar. In ihr drückt sich die zu erschließende Welt der Musik aus wie in einem Gewand. Träger und Gewand jedoch sind nicht dasselbe. Die Stimmung bildet eine Art Konstellation oder Komposition seelischer Einzelphänomene, Ausdruck einer sich mit ihr schmückenden oder sich in sie einhüllenden Welt. Die Stimmungswelt selbst ist nicht sinnlich, wenn auch die Einzelheiten, an die sie sich knüpft, alle sinnlichen oder gar Gegenstandscharakter besitzen mögen. Welcher Art ist sie selbst? Worin besteht ihre Wirklichkeit?
Stimmungen führen über die ausschließlich sinnliche Welt hinaus, in eine grenznahe nichtsinnliche Welt hinein. Sie sind Vermittler zwischen verschiedenen Welten. Mehr als die Addition von Sinneseindrücken, setzen sie doch an diesen an und verleihen ihnen einen Glanz, eine Art raunende Sprache oder einen Klang, welche sie über sich selbst als Bestandteile der Sinneswelt erheben. Sie vollziehen mit der Sinneswelt eine Belebung und Beseelung und nehmen uns in diese mit. Das intim erfahrbare Erlebnis dabei ist immer das eines belebten und erfüllten Raumes, der über die Dinge der gegenständlichen Welt hinausgeht in die Weite, nach oben, nach außen, nach unten wohl auch,- immer aber in einen gegenüber der Gegenstandswelt erlebbaren Umkreis. Daher der treffende Vergleich mit „Atmosphäre“. Zugleich erweist sich der Stimmungsraum als begrenzt. Hier tritt man in ihn ein, dort verlässt man ihn wieder – eine bekannte Erfahrung.

Der „Raum der Stimmung“

Was ist dieser „Raum der Stimmung“, der von ihr erfüllte Umkreis? Äußerlich betrachtet befinden sich andere Lebewesen und Gegenstände in ihm. Intim beobachtet vollzieht sich in diesem Raum die Berührung oder Durchdringung eines Sinnlichen mit einem Nicht-Sinnlichen. Dabei vollzieht sich eine doppelte Bewegung. Einerseits geschieht ausgehend von den sinnlichen Gegebenheiten, zum Beispiel einer Landschaft, eine empfangsbereit sich öffnende Gebärde hin zu den überphysischen Gegebenheiten derselben Landschaft.
Andersherum nehmen sich die Vorgänge so aus, als kämen nichtsinnliche Geschehnisse und Kräfte aus dem Umkreis den Dingen und Vorgängen der sinnlichen Welt entgegen, diese ergänzend und vervollständigend. Dabei scheinen die nichtsinnlichen Gegebenheiten, von denen hier die Rede ist, im Wesentlichen zu tun zu haben mit Art und Maß der Lebendigkeit in der Landschaft und mit deren seelischen Qualitäten.

Landschaft als Stimmungsträger

Wir kennen das alle: Landschaften können mächtige Stimmungsträger sein, von denen wir empfinden, wir träten in sie ein und verließen sie wieder dort, wo sich der Landschaftstyp ändert, menschliche Besiedlung beginnt oder aus anderen Gründen ein erlebbarer Stimmungsraum endet.

Rosswag an der Enz – eine Landschaftsstimmung

Ich hatte die Landschaft im Flusstal der Enz bei dem Dorf Rosswag nahe Vaihingen an der Enz im Schwäbischen schon mehrfach allein und in Gemeinschaft durchwandert. Vom Dorf kommend, war ich zumeist auf einem südlich unterhalb des Dorfes gelegenen Überflutungsdeich dem Flusslauf gefolgt, hatte diesen dann verlassen und war in eine jenseits des Deiches zum Fluss hin niedriger gelegene ausgedehnte Streuobstwiesenlandschaft eingetreten, die dem Fluss zugleich als Überflutungsgebiet dient. Hier macht der Fluss eine weite Schleife nach Süden und eröffnet so gegenüber dem alten Dorfkern im Nordosten und dem sich auf einer Anhöhe nördlich ausdehnenden Siedlungsgebiet eine sich weit nach Süden erstreckende Niederung, die im Wesentlichen von Apfel- und Kirschbäumen sowie Weiden bestanden und von Schafen beweidet wird. Zugleich dient dieser trockenliegende Teil des Flusstals als Überflutungsgebiet. Südöstlich also der eine weite Linkskurve vollziehende Fluss, weit vorne zur Rechten im Nordwesten aufsteigende Weinberge, so wandert man auf verschiedenen Wegen oder über die beweideten Wiesen durch die sich nach Süden weitende Ebene, umgeben und begleitet von der je nach Tages- und Jahreszeit verschiedenen Erscheinung und Wirkung der locker stehenden kleinen Obst- und sonstigen Bäume. Nach geraumer Zeit nähert sich von links, wieder nach Norden fließend, erneut der Fluss, die nach Süden ausholende Schleife gleichsam schließend und sich dadurch im Tal den im Nordwesten befindlichen Weinbergen annähernd. Zwischen ihnen und dem Fluss beginnt bald darauf abrupt ein Streifen Ackerland, der von einem geradeaus verlaufenden Asphaltweg in zwei Teile zerschnitten wird.
Ich hatte es mir im Zusammenhang mit meinen Gängen zur Gewohnheit gemacht, unmittelbar anschließend eine Art kurzes Stimmungsprotokoll zu schreiben. Dieses sollte weniger die äußeren Einzelheiten der Umgebung festhalten als vielmehr den Versuch machen, etwas von den Stimmungen in Worte zu fassen, die mir zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten auf meinen Gängen durch immer wieder dieselben Landschaften begegneten. Ein solches Protokoll konnte Folgendes beinhalten, wobei in diesem Fall der Gang an einem 20. Dezember gegen 16 Uhr begann und gemeinsam erfolgte.
„Am Himmel ziehen dunkelgraue Wolken dahin, ziemlich schnell… Wie stark sie die ganze Szenerie verändern! Sie bringen das Ganze in Bewegung. Wir folgen dem Weg hinein ins offene Land mit seinen Obstbäumen und Weiden. Von rechts kommend mündet ein zweiter Weg in den unseren, die beiden begegnen einander, um sich kurz darauf wieder zu trennen. Wir folgen dem rechten. Es wird dämmriger. Von überallher sind Vögel zu hören. Krähen haben sich auf zwei Obstbäumen versammelt. In dieser Zeit wirkt alles viel lebendiger als bei unserem vorigen Gang. Links ein hellbräunlicher Streifen von Gräsern setzt sich ab gegen das Grün der Wiesen und das dunkle Graubraun der Bäume. Aus der Ferne wirken die Triebe dreier Weiden deutlich rot. Links eine Schafherde, der wir uns nähern. Merkwürdiges Geräusch, das Grasen einer ganzen Herde Schafe und ihre langsame, gemeinsame Fortbewegung. Nach rechts hin verlassen wir den Kernbereich des Tals. Es wird dunkel. Wir erreichen wieder den Weg, den wir verlassen hatten, um in die Nähe der Schafherde zu gelangen. Der Boden steigt kaum merklich an. Wo die Obstwiesen in Ackerland übergehen, machen wir halt. Hier wird der Weg, der zuvor gewunden ist, mit einemmal schnurgerade. Auch die Äcker sind entsprechend angeordnet, ‚Handtuch-Äcker’.“

Die Quellen der Stimmung

Es mag aus den wiedergegebenen Zeilen andeutungsweise hervorgehen, daß in der begangenen Landschaft durchaus eine deutliche Stimmung erlebbar war, obwohl es sich um eine mitteleuropäische Kulturlandschaft handelte, die keine großen Extreme oder Einseitigkeiten aufwies. Die Stimmung selbst verweist bei näherem „Hinschauen“ gleichsam auf ihre Quellen, sie lässt sich wie zu diesen verfolgen. Ein Blick „hinter“ die zunächst auftretende Stimmung, aus demselben Protokoll:
„Das Erleben der Obst- und Weidelandschaft: Man wird durch die Landschaft in eine strömend-fließende Bewegung versetzt. Frei fließende Ströme, die sich kurz über dem Boden abzuspielen scheinen. In diese wird man mit hineingenommen… Die Landschaft hat etwas Wohltuendes, Kräfte Vermittelndes, fast Gesundendes. Haltepunkte in der strömenden Bewegung bilden die Weiden und Obstbäume. Das Land selbst ruft geradezu hervor, daß man mit dem Blick, mit einer eigenen inneren Bewegung darüber hingleitet. Die Farbe ist mehr oder weniger immer die gleiche, doch wirkt sie nicht eintönig, sondern lebendig-nuanciert. Die Bewegung, in die man über dieser Landschaft mit hineingenommen wird, hat etwas Leichtes, Luftig-Nebelhaftes, auch Wässriges.
Ganz anders das Ackerland. Hier entsteht das Empfinden, viel materieller, erdiger berührt zu werden von den dunklen, offen daliegenden Erdschollen. Gleichzeitig entsteht das Gefühl: Ich erhebe mich darüber, setze mich von der Erde ab, greife von mir her in die Erde ein – da liegt etwas wie eine Impulsierung zur Arbeit an der Erde. Es geht von diesem Boden keine Eigenbewegung aus, die mich in sich aufnimmt, zumindest wird eine solche zunächst nicht spürbar. Das Erlebnis ist vielmehr: Ich präge diesem Land Bewegungen ein, die meine eigenen sind und nicht aus der hiesigen Natur stammen. Da wird etwas Härteres und Festeres spürbar als über dem Boden des Weidelandes. Beim offenen winterlichen Ackerland ist es im und kurz unter dem Boden, worauf man hingelenkt wird. Beim beweideten Grasland spielt sich ca. 30 bis 70 cm über dem Boden etwas ab, mit dem man sich innerlich mitbewegt.“

Stimmung als Gewand von Leben und Seele

Es folgten im Laufe eines Jahres eine Reihe weiterer Gänge durch dieselbe Landschaft. Wie aus einer gleichbleibenden Grundstimmung, die bei allem Wechsel und allen Nuancen in ihr zu leben schien, traten dabei zunehmend bildhaft werdende Empfindungen auf (eine Art Imaginationen der Landschaft?), die in einer Verdichtung des zuletzt Angedeuteten etwas vom Wesen der beiden nebeneinander liegenden Landschaftstypen zu erfassen schienen. Abschließend dazu aus dem Protokoll eines späteren Ganges:

[one_half]Weideland
leicht über dem Boden,
gewunden, kurvig, geneigt,
mäandrierend,
in ständiger Bewegung,
nebelhaft, dunstartig,
sich schlingende Gestalten,
anschmiegsam, wässrig-luftig,
das „Eigentliche“ lebt knapp
über dem Boden,
fühle mich zu ihm hingezogen
[/one_half] [one_half_last] Ackerland
Keile in den Boden treibend,
senkrecht, hart,
fest und gerade, dunkel
fühle mich nach unten gezogen,
muss mich demgegenüber aufrechterhalten,
„oben“ bleiben,
schlagartig
das „Wesentliche“ spielt sich in Knietiefe
unter dem Boden ab,
Gelärme, Getöse
[/one_half_last]

 

Was oben die „Quellen der Stimmung“ genannt wurde, ist nicht so zu verstehen, als sei damit alles gesagt, was das „Woher?“ der Stimmung betrifft. Während jedoch die zunächst erfahrbare Stimmung gleichsam noch ihren Schwerpunkt im Empfinden des Erlebenden hat, verlagert sich dieser zunehmend in die Welt, in diesem Fall in die Landschaft und insbesondere deren nicht-sinnlichen Quellort. Insofern sich dieser ausschnitthaft und schrittweise offenbart – immer im Zwiegespräch mit demjenigen, der sich ihm zu nähern versucht – ist hier von den Quellen der Stimmung die Rede. Was anfänglich Stimmung war, eröffnet so durch den vom Erlebenden aktiv beschrittenen Weg nach und nach die nicht-sinnliche Erkenntnis des „Stimmungsträgers“, der Quellen, im beschriebenen Fall einer Landschaft.
Stimmungen sind ihrem Wesen nach potentielle Erkenntnisinstrumente. Es ist in ihnen angelegt, sich in Richtung von Erkenntnismitteln zu entfalten. Nur kommt es dabei wie in vieler Hinsicht auf „uns“ darauf an, die wir Stimmungen empfinden, in Stimmung geraten, von Stimmungen abhängig werden, diese aber auch verändern können. Ob es bei Stimmungen im landläufigen Sinne bleibt,- relativ viel (Selbst-) Genuss oder (Selbstmit-)Leid und wenig Erkenntnis,- oder ob der Erkenntnisanteil gesteigert wird und der Genussaspekt Hinweischarakter erhält, das hängt davon ab, ob wir ihnen – den Stimmungen – dazu verhelfen zu werden, was ihre „Bestimmung“ ist.

Nothart Rohlfs

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