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dOCUMENTA (13) – Der Wind weht, wo er will

Eintritt in ein Lebewesen – dieser Titel eines Vortrags von Joseph Beuys, gehalten am 6.8.1977 in Kassel im Rahmen der Free International University auf der Documenta 6, charakterisiert einen Vorgang, von dem man beim Eintritt und Durchwandern der Documenta 13 eine Ahnung erhalten kann. Man tritt in einen Zusammenhang ein, der bei aller Vereinzelung seiner Werke, bei aller Unverbundenheit seiner äußeren Bestandteile auf einem gleichsam überphysischen Niveau ein lebendiges Ganzes ausmacht, das bewegt ist und bewegt, das belebt und erschöpft, Dynamiken und Ruhezonen enthält und den Besucher in sie auf- und mitnimmt. Und der durch immer wiederkehrende prägende Stilelemente individuellen Charakter und unverwechselbares Aussehen erhält.
Dieser Charakter hängt mitunter zusammen mit einer Art Motto, das Carolyn Christov-Bakargiev, die Leiterin der diesmaligen Documenta, der weltweit bedeutendsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst wie nebenbei zuweist, diese damit schlaglichtartig beleuchtend. Es handelt sich um Collapse and Recovery, Zusammenbruch und Auferstehung, Absturz und Erholung, Wiederherstellung der Kräfte, des Bewusstseins, der Ordnung.
Wo sich auf der Documenta 12 vor fünf Jahren auf dem zentralen Kasseler Friedrichsplatz ein blühendes Mohnfeld erstreckte, da herrschte diesmal zunächst die nüchterne Leere jenes Platzes in seiner unverwandelten Gestalt. Bis sich Vertreter von Occupy Kassel, einer Regionalgruppe von Occupy Germany, auf dem Platz einfanden und ihn Schritt für Schritt umgestalteten. Und sie taten dies offenbar im Sinne von CCB, wie Carolyn Christov-Bakargiev vielfach abkürzend und beinahe kumpelhaft genannt wird, die den Vorgang duldete, ihn wohl auch als ergänzenden Bestandteil des Gesamtgeschehens der diesmaligen Documenta verstand.
Nähert man sich als Besucher nun den zentralen, die Documenta 13 beherbergenden Gebäuden am Friedrichsplatz, so passiert man das Zeltlager der Occupy-Aktivisten sowie eine Art Installation: Dreieckige Gestelle, zeltähnlich anmutend und bespannt mit weißen Planen, fallen ins Auge. Die Plane eines jeden »Zeltes« ist beschriftet mit einer sozialen Untugend, einem Laster, welche ursächlich mit den wirtschaftlichen und sozialen Krisensymptomen der Gegenwart in Verbindung gebracht werden können.
Der maßgebliche Eintritt in die Documenta erfolgt über den Haupteingang des Fridericianums vom Friedrichsplatz aus. Der Besucher betritt das große und helle Gebäude durch die Vorhalle im Erdgeschoss, die sich in der Mitte zwischen symmetrisch angelegten Räumen zur Rechten wie zur Linken befindet. Entschließt er sich, von hier aus die seitlich gelegenen Räume zu betreten, so gelangt er jeweils in einen geräumigen Saal. Dieser Saal, rechts wie links, erscheint beim Eintritt so gut wie leer. Es entsteht unter Umständen eine leichte Irritation sowie die Neigung, den jeweiligen Raum rasch zu durchqueren und die dahinter liegenden Räume aufzusuchen. Oder es macht sich die Neigung geltend, den betretenen Saal unmittelbar wieder zu verlassen und vielleicht in der Gegenrichtung sein Glück zu versuchen (um dort, unversehens, eine ähnliche Erfahrung zu machen).
Wird keiner dieser zwei Neigungen gefolgt – die mitunter dadurch ausgelöst werden, dass man sich entgegen allen Erwartungen in weitgehend leeren Räumen wiederfindet – so vielleicht deshalb, weil man die aufkommenden Empfindungen bemerkt, die durch den Überraschungseffekt entstehen. Bin ich hier richtig? Übersehe ich etwas? Dieser Raum war doch bei früheren Documenten jedes Mal intensiv genutzt… Unsicherheit entsteht und das leise Gefühl, als werde einem der Boden unter den Füßen entzogen. Unmittelbar anschließend konturiert sich eine Stimmung heraus, die sich auf den Raum bezieht, in den man eingetreten ist: Umgebende Weite, Helle, Offenheit. Der Raum lädt ein zum Durchschreiten, zu eigener Bewegung, zu Gestaltung. Eher ungewöhnlich in einer Großstadt, die einen ringsum offensiv mit Eindrücken bestürmt. Hier das Gegenteil. Und mitten in derlei Empfindungen hinein zwei Sinneseindrücke: Man hört im Hintergrund eine Ventilation und verspürt, unterschiedlich im Verlauf und an verschiedenen Stellen im Raum, das an- und abschwellende Wehen eines leichten Windes, der einen kühlend umgibt (Teil eines Werkes von Ryan Gander).
Eine Anspielung von CCB auf Johannes 3,8? »Der Wind weht, wo er will. Du hörst sein Rauschen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht.« Was im alten Hebräischen rúach ist, kann in modernen Sprachen auch als Hauch, Atem oder Geist verstanden werden. Es kann also auch heißen: »Der Geist weht, wo er will.«
Macht man sich die Mühe, die besondere Eingangssituation und die sich an ihr entzündenden Empfindungen beim weiteren Gang durch die Documenta probeweise zusammenzuschauen mit jenem Collapse and Recovery, so bemerkt man unter Umständen, wie man selbst während des Besuches an inneren Prozessen teilhat, die Vernichtung, Zusammenbruch, Absturz wie Erneuerung, Genesung, Auferstehung wie in feinen seelischen Dosen beinhalten und die entscheidend von diesen polaren Qualitäten geprägt sind. Das Motto scheint sich wie ein real wirksamer Unterstrom durch die Documenta zu ziehen.

Collapse and Recovery

Ebenfalls den Wind, die Luft, den Atem, die Atmosphäre betrifft eine Langzeitaktion der Konzeptaktivistin Amy Balkin, Public Smog, deren Ziel es ist, in der Erdatmosphäre eine Art Park der sauberen Luft zu schaffen. Die Künstlerin erwarb 2004 auf einem regionalen Emissionsmarkt für Treibhausgase das Recht auf die Emission von elf Kilogramm Stickoxid, nahm das »erworbene« Recht jedoch nicht wahr. Die Aktion entzog dem Himmel über dem südlichen Kalifornien, wo sie durchgeführt wurde, eine kleine Menge Smog verursachender Chemikalien. Der Park der sauberen Luft soll u.a. durch die Eintragung der Erdatmosphäre als UNESCO-Welterbe sowie durch verschiedene künstlerische und gesellschaftspolitische Aktivitäten befördert werden.
Polare Qualitäten wie Unterdrückung, Erniedrigung, Entwürdigung sowie andererseits Widerstand, Überwindung, aufrechtes Handeln und Engagement für Ideen bzw. Ideale bilden vielfach Motive, welche die Beiträge der Documenta-Künstler durchziehen, das eine neben dem anderen, zum Teil in ein und demselben Werk.
Der Inder Amar Kanwar zum Beispiel setzt sich intensiv mit Konflikten seiner Heimat auseinander wie den Ungerechtigkeiten im Umgang mit Landnutzung und Bodenschätzen. In zwei abgedunkelten Räumen im Kasseler Naturkundemuseum, dem Ottoneum, im Rahmen einer Werkgruppe mit der Bezeichnung When you step inside you see that it is filled with seeds, befindet sich seine Installation The Sovereign Forest, die dem Kampf gegen Auswüchse von Politik und Wirtschaft gewidmet ist. Obwohl ein Thema, das von Unrecht und Gewalt in hohem Ausmaß geprägt ist, präsentiert Kanwar seine Arbeit in Form von Filmen, Büchern, Flugblättern und Saatgut in einer Weise, die voller Anmut ist. Kleine viereckige Gefäße, von oben durch sparsamen Lichteinfall beleuchtet, in strenger Ordnung an einer dunklen Wand, enthalten Saatgut von 266 einheimischen Reissorten. Daneben zeigen Bücher, z.T. aus schwerem Pergament, deren Seiten vom Betrachter umzublättern sind, durch Projektion auf die Seiten wechselnde und sich bewegende Bilder von Geschehnissen, die mit dem Thema der Arbeit zusammenhängen. Diese Bücher mit ihren ruhig bewegten Bildern erzeugen eine ergreifende Stimmung, die dem Betrachter die fremde Welt in ihren Qualitäten nahebringt. Ein Film vermittelt dem Zuschauer Eindrücke einer Landschaft, kurz bevor diese für Ankauf und Nutzung durch Industrieunternehmen aufgeteilt und ihrer ursprünglichen Natur beraubt wird.
Auch in der Arbeit What Dust Will Rise? von Michael Rakowitz ist das genannte Motiv spürbar. Der Künstler schuf gemeinsam mit Kollegen aus dem Gestein von Bamiyan Nachbildungen wertvoller Bücher, die 1941 bei der Bombardierung des Fridericianum verbrannt wurden. Dieses enthielt damals die Bestände der kurhessischen Landesbibliothek. In Bamiyan wurden im Jahr 2001 im Auftrag des Talibanführers Mullah Omar die dortigen Buddhastatuen gesprengt. Die in Travertin gemeißelten Bände, begleitet von anderen Gegenständen aus Bamiyan wie Artilleriegranaten, Patronenhülsen, aber auch der Nachbildung einer Reliquie, die in der Hand eines der zerstörten Buddhas gefunden wurde, werden in Kassel gezeigt. Der Künstler verknüpft mit seiner Aktion auf feinfühlige Weise verschiedene gewaltbeladene Themen und führt sie zu einer Art Heilung oder Versöhnung anhand ihrer Hinterlassenschaften.
Auch die indische Künstlerin Nalini Malani bemüht sich um die Aufarbeitung geschehenen Unrechts. In ihrem »Video/Schattenspiel« In Search of Vanished Blood bedient sie sich fünf großer durchsichtiger und rotierender Zylinder, die oberhalb der Zuschauer angebracht sind, und deren Bildmotive durch Projektoren rundum an die Wände geworfen werden, kombiniert mit ebenfalls auf die Wände projizierten Videos. Die Bildmotive illustrieren auf der Grundlage literarischer Texte historische und aktuelle soziale Themen. An den Wänden sieht man sich im Kreis bewegende Bilder von Menschen in verschiedenen Haltungen und Funktionen, menschliche Gliedmaßen, Werkzeuge, Götterbilder, Tiere… Dies alles wird bei wechselnden Farben und Beleuchtung eindringlich untermalt von Sprechtexten, Musik, maschinenähnlichen Staccato-Geräuschen. Das gesamte Szenario vermittelt eine Stimmung von Grauen, Verzweiflung, Vorhölle…

»Schöner Schein« und Kunstgenuss

Von »schöner Kunst« im klassischen Sinne kann auf der führenden Präsentation zeitgenössischer Kunst wenig die Rede sein. Und doch finden sich auch hier zwischen allem Berührenden, Verstörenden, Bewegenden und Zukunftsweisenden »reine«, »schöne« Gebilde, die zu purem Kunstgenuss geradezu einladen. So finden sich in der Documenta-Halle neben herausfordernden Eindrücken wie den zuletzt erwähnten eine Reihe kleinformatiger Ölgemälde von prachtvoller Farbigkeit und Kraft der im Libanon gebürtigen Künstlerin Etel Adnan. Seit ihrer frühen Übersiedlung nach Kalifornien bildet der nördlich von San Francisco gelegene Mount Tamalpaïs einen lieb gewordenen Bezugspunkt ihrer Malerei. So auch auf vielen der hier gezeigten Bilder. In ihrem Büchlein in der Documenta-Reihe der 100 Notizen – 100 Gedanken schreibt sie über diesen Berg: »Ich begann mich an ihm zu orientieren, aus der Nähe ebenso wie aus der Ferne. Er wurde zu einem Gefährten. Und als ich dann irgendwann Malerin wurde, begann ich ihn zu malen, in Öl. Ich zog in ein Haus in Sausalito, aus dessen sämtlichen Fenstern er zu sehen war. Ich malte nur noch den Berg, und das ging jahrelang so, bis ich nichts anderes mehr denken konnte. Es wurde meine Hauptbeschäftigung, den Berg in seiner unaufhörlichen Veränderung zu beobachten.«¹
Einen ebenso herausragenden Genuss bildet das von Mark Dion für die Schildbachsche Holzbibliothek verfertigte Gehäuse, eine Auftragsarbeit für die dOCUMENTA (13). Die Xylothek Schildbach gehört zu den besonderen Schätzen des Kasseler Naturkundemuseums. Sie enthält 530 »Bücher«, die aus 441 einheimischen Baum- und Straucharten hergestellt sind. Jedes Exemplar besitzt einen Buchrücken aus Rinde. Das eigentliche »Buch« lässt sich öffnen und enthält einen Hohlraum, in dem sich Bestandteile des jeweiligen Baumes befinden (Zweigteile, Früchte, Blätter), die dessen Lebenszyklus veranschaulichen.
Der Künstler hat für diese einzigartige »Bibliothek« eine Präsentationsarchitektur in Form eines sechseckigen Eichenholzkabinetts gestaltet, in das Regale eingefügt sind, auf denen sich die hölzernen »Bücher« befinden. Auf den Außenseiten des übermannshohen Gehäuses sind als Intarsienarbeiten fünf Bäume dargestellt, welche stellvertretend für jene Kontinente stehen, deren Bäume sich nicht in der Bibliothek befinden. Sechs von Dion geschaffene Bücher ergänzen den bisherigen Bestand der Bibliothek.

Die Sprache der Konstellationen

Ein besonderer Reiz dieser Documenta entsteht durch die Konstellationen, in denen wissenschaftliche, künstlerische und Werke mit gesellschaftspolitischem Hintergrund einander gegenseitig beleuchtend zusammengefügt sind.
So befinden sich im ersten Stock des Fridericianums drei Beiträge unterschiedlicher Art und Herkunft in einem Raum. Sie sind so angeordnet, dass sie gleichsam in engem Austausch miteinander zu stehen scheinen. Nähere Betrachtung entdeckt tatsächlich überraschende Bezüge. Zum einen handelt es sich um das züchterische Werk des bayerischen Pfarrers Korbinian Aigner. Dieser kritisierte offen den Nationalsozialismus, wurde in der Folge festgenommen und zu Zwangsarbeit verurteilt. Im Konzentrationslager Dachau gelang es ihm, vier Apfelsorten zu züchten, die er auf die Namen KZ-1, KZ-2, KZ-3 und KZ-4 taufte. Aigner, der den Nationalsozialismus überlebte, betätigte sich auch als Zeichner. Rund 900 seiner Zeichnungen von Äpfeln und Birnen sind im genannten Raum zu sehen.
Im selben Raum befinden sich weiterhin drei großformatige Zeichnungen sowie eine Sammlung von Karteikarten des US-amerikanischen Künstlers Mark Lombardi. Worum handelt es sich? Lombardi legte mit seinen Karteikarten ein Archiv von Nachrichtenmeldungen und persönlichen Aufzeichnungen an, die sich auf die politischen und Finanzskandale seiner Zeit beziehen. Zum anderen erstellte er eine Art Kartografie des modernen Bösen, das sich hinter wohlsituierten Erscheinungsbildern verbirgt, in Wahrheit jedoch skrupellos auf den eigenen Vorteil versessen in Politik und Wirtschaft agiert. »Lombardi zieht in seiner Kunst ganz buchstäblich sämtliche Verbindungslinien, um beharrlich den unrechtmäßigen Mächten und Kräften auf der Spur zu bleiben, die in der Weltwirtschaft die Fäden ziehen.«²
Ebenfalls im gleichen Raum befindet sich Station Bob, Teil einer Versuchsanordnung zur Demonstration der sogenannten Quantenverschränkung, durchgeführt von Anton Zeilinger, dem österreichischen Quantenphysiker. Station Bob ist eine von zwei Stationen, welche die Polarisation eines Lichtstrahls messen, der über einen Kristall zerlegt wird. Dieser „verschränkt“ (Erwin Schrödinger) die Photonen beider Lichtwege. Das bedeutet, dass die Lichtquanten über beliebige Distanzen in ihren Eigenschaften miteinander verbunden bleiben. Vor der Messung bleibt der einzelne Polarisationszustand beider verschränkter Photonen unbestimmt. Misst man an Station Bob die Polarisation eines Photons, so zeigt sich ein bestimmter Zustand, der als vertikal bzw. horizontal bezeichnet wird. Hat man die Messung vollzogen und ein Ergebnis erhalten, so ist mit diesem auch der Zustand des anderen Photons festgelegt, das bei Station Alice »ankommt«. Mit der Messung am Ende eines Lichtweges ist also zweifelsfrei und ohne Verzug auch der Zustand im anderen Lichtweg definiert. Für Zeilinger bildet das Phänomen den Beweis, dass ein lokal realistisches Weltbild, wie wir es für unsere tägliche Erlebniswelt voraussetzen, für die Welt der kleinsten Teile nicht gilt.
Die Konstellation dieser drei unterschiedlichen Beiträge ist bemerkenswert. In allen drei Fällen geht es um Zusammenhänge zwischen Faktoren jeweils eines ausschnitthaften Teils der Welt. Die von Aigner gezeichneten Äpfel hängen letztlich über Züchtungslinien miteinander zusammen und bilden ein Ganzes. Die von Lombardi verfolgten kriminellen Machenschaften offenbaren Verbindungen zwischen Menschen, die sich durch moralisch defizitäres Handeln auszeichnen. Die von Zeilinger untersuchten miteinander verbundenen Photonen besitzen die Eigenschaft, dass die Folgen äußerer Einwirkung auf eines der Quanten – hier der Messung – auch bei dem anderen, räumlich von ihm getrennten Quant auftreten.
Dieses Verhalten wirft Fragen nach Gesetzmäßigkeiten auf, denen die entsprechende Welt zu unterliegen scheint, vorausgesetzt, dass es sich bei einem quantitativen Verständnis des Lichts grundsätzlich um ein sinnvolles Konzept zur Erkenntnis des Lichtes handelt. Könnte es, weiter gedacht und die Ergebnisse von Zeilinger vorausgesetzt, nicht auch sein, dass auf eine verwandte Weise Zusammenhänge bestehen zwischen den »Bestandteilen« jener Welt, die Lombardi untersuchte – oder sogar derjenigen, mit der sich Aigner als Gärtner befasste?
Könnte dies im Hinblick auf Lombardis Untersuchungen zum Beispiel heißen, dass aufgrund gemeinsamer zurückliegender Vorgänge einstweilen unbekannter Art in der Entwicklung der Betreffenden »Verschränkungen« zwischen jenen Menschen angenommen werden müssten, die nun unter bestimmten äußeren Einflüssen alle in vergleichbarer Weise moralisch defizitär handeln? Wäre eine solche Annahme ausschließlich skurril oder könnte sie unter bestimmten Voraussetzungen die Grundlage einer sinnvollen Gedankenführung bilden? Zu welchen Schlussfolgerungen würde sie führen?

Stilbildende Elemente der Documenta

Mit einiger Aussicht auf Erfolg einen begrifflich ordnenden Blick auf die gesamte Documenta 13 zu werfen, scheint wesentlich schwieriger, als dies vor fünf Jahren im Hinblick auf ihre Vorgängerin der Fall war. Die Schwierigkeit dürfte mit der abermaligen Zunahme ihrer Mitwirkenden und deren Werken zu tun haben, mit dem überaus umfangreichen Rahmenprogramm, aber auch mit jener Tatsache, die in der Aussage von CCB zum Ausdruck kommt, ihr Konzept bestehe darin, kein Konzept zu haben. Angesichts dessen steht jede dennoch getroffene Aussage unter Vorbehalt.
Die enorme Wirkung der diesmaligen Documenta beruht entscheidend auf drei Säulen. Zum einen handelt es sich um das Motiv des Collapse and Recovery. Vieles von dem, was derzeit in Kassel zu erleben ist, beruht auf der eindrucksvollen Wirksamkeit dieser Polarität. Ob sich diese in einzelnen Werken wiederfindet, ob sie sich durch miteinander ins Verhältnis tretende Beiträge manifestiert, – auf ihr beruhen in hohem Maße Kraft und Dynamik der dOCUMENTA (13).
Ein zweiter markanter Grund ihrer Wirksamkeit und Strahlkraft liegt in den Konstellationen, die auf der Documenta anzutreffen sind. »Sprechende« Beziehungen zwischen den Bestandteilen eines einzelnen Werkes – dies ist zum Beispiel an den »betenden« Motoren von Thomas Bayrle deutlich erfahrbar – sowie zwischen verschiedenen Werken und Beiträgen, die in einer gleichsam »unhörbaren Sprache« miteinander kommunizieren, sind ein maßgeblicher Baustein des von CCB errichteten Gebäudes. Die Aussagen dieser »Sprache« bilden Stimmungsräume und –zentren, von denen Atmosphärisches ausgeht, das jenseits der unmittelbar dinglichen und sinnlichen Beobachtungen wahrgenommen wird. Ein eindrucksvolles Werk in diesem Sinne ist Soil-Erg von Claire Pentecost. Die Künstlerin beschäftigt sich seit langem mit Ernährung und Landwirtschaft sowie den modernen Strategien von Industrieunternehmen, sich dieser Themen zu bemächtigen. Mit ihrer Installation entwirft sie auf der Grundlage einer Art Umwertung der Werte eine neue Währung in Form lebendigen Ackerbodens, den sie dem Petrodollar gegenüberstellt, der auf der Verbindung des weltweit einflussreichsten Handelsgutes mit der militärisch gestützten mächtigsten Währung der Welt beruht. Die durch Kompostieren von jedermann herstellbare Ackerboden-Währung erweist ihren Wert am stärksten, wenn sie in konkreten örtlichen und sozialen Zusammenhängen erzeugt, bebaut und gepflegt wird.
In dem der Künstlerin zur Verfügung stehenden Raum befinden sich zwei Tische mit golden verspiegelten Oberflächen. Auf beiden sind in unterschiedlicher Anordnung Stapel in Barren gepresster Humuserde aufgetürmt. An den Wänden des Raumes befinden sich Zeichnungen im Stil riesiger, künstlerisch gestalteter Geldnoten, versehen u.a. mit den Portraits von Menschen, deren Ideen mit Pentecosts Arbeitsthema verwandt sind. Oberhalb dieser Zeichnungen sind gepresste Scheiben von Komposterde angebracht mit Löchern in der Mitte, die ihnen entfernt das Aussehen alter Münzen vermitteln. – Schließlich stehen an einer Schmalseite des Raumes zwei alte, baugleiche Vitrinen. Die linke, offensichtlich in ihrer ursprünglichen Funktion belassen, demonstriert die Gesteinsschichtung eines Ortes
im Gebirge. Die rechte Vitrine hingegen enthält ausschließlich ein wenig organisches Material, das sich im Prozess der Kompostierung befindet. Über Kopfhörer kann man den Bodenlebewesen bei ihrer Arbeit lauschen.

Das dritte Wirkungselement, von dem die Documenta 13 getragen wird und eng mit dem genannten verbunden, besteht in den Stimmungen, die von einzelnen Werken, aber auch Werkkonstellationen ausgehen.
Ein Werk, auf das hier abschließend hingewiesen werden möge, ist die von Haris Epaminonda und Daniel Gustav Cramer geschaffene »Stimmungs-Installation« (NR). Über zwei Stockwerke und den Dachboden eines Hauses sich erstreckend, erzählen die Künstler mit sparsam und stilsicher eingesetzten Mitteln gleichsam mehrere einander durchdringende Geschichten. Sie tun dies, indem sie kleine Gebrauchs- und Kunstgegenstände, Fotos, altes Filmmaterial, Bücher, Texte und Bilder in rätselhaft anmutige wie poetische Ordnungen bringen und miteinander in Beziehung treten lassen.

Wollte man die drei benannten, Wirk- und Aussagekraft der Documenta 13 entscheidend prägenden Elemente benennen, so ließe sich sprechen von qualitativ polarisierender Kunst, von der Kunst der Erzeugung sprechender Konstellationen sowie von einer Kunst der Stimmungsbildung. Diese drei Begriffe, die sich kaum sauber voneinander scheiden lassen, sondern wesentlich aufeinander bezogen und angewiesen sind, eignen sich gewiss nicht zu Definitionen, sondern bestenfalls zu Charakterisierungen der auf der Documenta anzutreffenden Werke. Doch bezeichnen sie drei zentrale Stilmittel, welche das »Ganze« und »Einheitliche« des »Ereignisses dOCUMENTA (13)« kennzeichnen und umfassen. Vielleicht bilden sie drei der Säulen, auf denen das geistige Gebäude Documenta sich erhebt und, eine Anregung zur Zeitgenossenschaft, seine Wirksamkeit entfaltet.

Nothart Rohlfs

Anmerkungen

¹ dOCUMENTA (13), Das Begleitbuch, Katalog 3/3, Ostfildern 2012, Seite 180
² a.a.O., S. 84

Der Artikel zum Download: Rohlfs-documenta 13