Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss

Reto Andrea Savoldelli: Hieronymus. Über Kino und Liebe in Zeiten der Reinkarnation – ein Roman der Jahrtausendwende

Die Idee zu einem Film stand am Anfang. Manche Figuren und Motive des jetzigen Romans haben bereits ein wechselvolles Leben von Jahrzehnten hinter sich und datieren zurück in eine Zeit, da der heute 60-jährige Autor ein gefeierter Jungfilmer war. Die anfängliche Filmidee wandelte sich im Lauf der Jahre und verdichtete sich in Form eines Drehbuchs. Obwohl weit fortgeschritten, ließ sich als Film jedoch noch nicht verwirklichen, was nun als Roman vorliegt. Als Roman voll herrlicher Lebendigkeit und Zeitgenossenschaft, voller Wechselfälle, Tiefe, Konsequenz und eulenspiegelnder Selbstbeobachtung. Und als Roman, dessen Handlung und Geschehen sich so selbstverständlich in zwei Welten entfaltet, dessen Handhabung des schwierigen Themas der Wiederverkörperung so entspannt und bar jeder Konstruktion erfolgt, daß es eine Freude ist. Und dabei ein wundervoll atmender Spannungsverlauf auf der Grundlage einer Dramaturgie, die den begabten Filmemacher erkennen lässt.
Worum handelt es sich? Was ist der Inhalt der Roman gewordenen Filmvorlage?
Hieronymus Halbeisen, ehemaliger Filmemacher, hat den Zenit seines Lebens überschritten, seine Frau verloren und aus Überzeugung mit dem Filmen aufgehört. Die Gedanken, die er sich im Lauf seines bisherigen Lebens gebildet hat, haben ihn zu Ansichten über Wesen und Wirkung des Films geführt, die ihn der Filmerei entfremdet haben.
Bei einem Besuch in Berlin löst er im deutschen Filmarchiv im Sony-Center am Potsdamer Platz ein paar seiner alten Filme aus und besucht seine Tochter Ilena in deren Wohngemeinschaft, die an der Filmhochschule dffb studiert. Bei dieser Gelegenheit ergibt sich eine kurze Begegnung mit der französischen Filmregisseurin Isabelle Montclaire, Dozentin seiner Tochter und ihrer Kommilitonen.
Während seines Berlin-Aufenthalts trägt ihm ein alter Bekannter, auch er Filmregisseur, den Auftrag für ein Drehbuch an. Auf der Grundlage eines Buches von Guirdham über die Katharer soll er den Entwurf für einen Film zum Thema Reinkarnation verfassen. Halbeisen lehnt ab.
Außerdem begegnet er im Filmarchiv Prof. Gustavo Santi, der dort vergeblich einen Film einzulagern versucht und mit dem er anschließend gemeinsam die Heimreise nach Basel antritt. Die beiden hatten überrascht festgestellt, daß sie nur wenige Dörfer voneinander entfernt im Sundgau, Dreiländereck bei Basel, ihre Bleibe haben. Sie verabreden sich für den Nachmittag ihres Ankunftstages zu einem Treffen.
Damit ist ein erstes Beziehungsgeflecht aufgespannt, zwischen dessen Protagonisten sowie hinzukommenden Personen sich im Weiteren ein überraschendes und vielfältiges Geschehen entfalten wird.Von diesem sei hier nicht allzu viel verraten. Punktuelle Einblicke mögen genügen.
Bald nach der erwähnten Reise kommt es während einer ungewöhnlichen Filmvorführung unter freiem Himmel, der Halbeisen beiwohnt, zu einem einschneidenden Vorfall. Halbeisen befällt eine Art Schwindel, er verliert das Bewusstsein. Die Umstände des abgelegenen Ortes führen dazu, daß er in die Räumlichkeiten einer ominösen Burggesellschaft gebracht wird, die über eine Krankenstation verfügen soll. Es stellt sich allerdings rasch heraus, daß er es in seiner besonderen Verfassung besser kaum hätte treffen können. Der dortige Arzt widmet sich ihm mit außerordentlichem Verständnis und leitet seine Pflege und Therapie in ungewöhnlicher, doch sachdienlicher Weise ein.
Während Halbeisen für die äußere Betrachtung im Koma liegt, spielen sich in dessen eigenem Bewusstsein Ereignisse ab, an die er sich später wird erinnern können und die sein Leben in unabsehbarer Weise bereichern. Er betritt eine Welt, die sich ihm nach seinem Erwachen als die einer früheren Inkarnation in Südfrankreich zur Zeit der Katharer erweist. Das gegenwärtige Erleben und Bewusstsein des Hieronymus Halbeisen scheinen beinahe übergangslos hinüber zu gleiten in Erleben und Bewusstsein des Grafen Raymond-Roger de Nirveille, Herrn von Arques, aus der Gegend um Foix südlich von Toulouse. Das diesem Bewusstsein aufgehende Geschehen einer mittelalterlichen Welt spielt sich am Übergang vom 12. zum 13. Jahrhundert ab, zu Lebzeiten Wolframs von Eschenbach, der die okzitanischen Lande bereiste und eine zentrale Gestalt der damaligen Inkarnation bildet.
Was sich in jenem Leben an der Naht zwischen katharischer Religiosität und päpstlich geführtem Christentum abspielt, mitunter bis zur vollständigen Niederwerfung des Katharertums samt Ermordung und Vertreibung seiner Vertreter und Anhänger, wirft seine Lichter und Schatten in das Leben der im 20. Jahrhundert erneut inkarnierten Personen.
Wie sich der Lebenslauf Halbeisens und der ihm Nahestehenden nach dessen Erwachen aus dem Koma weiter gestaltet, sei der Lektüre des Buches vorbehalten. Nur soviel sei gesagt: Gegen Ende kommt es dazu, daß der Film gedreht wird, dessen Ideen und Konzept die Grundlage des vorliegenden Romans selbst bilden. Wie es jedoch bis dahin kommt, darin spiegeln sich die Geschehnisse jenes Vorgängerlebens und erfahren ihre Verwandlung in der Gegenwart, die Halbeisen zur Erfahrung geworden sind.

Der Roman überzeugt außerordentlich durch eine im besten Sinne zeitgemäße Modernität sowie in seiner wunderbaren und zukunftsweisenden Behandlung des Themas von Wiederverkörperung und Schicksal. Da fallen gewisse redaktionelle Schönheitsmängel der Veröffentlichung als Manuskriptdruck nur unerheblich ins Gewicht. Seine Lektüre sei einem umfangreichen Leserkreis wärmstens ans Herz gelegt. Nicht zuletzt ist zu hoffen, daß sich ein Verleger dafür begeistern möge, diesen außergewöhnlichen Roman in das eigene Sortiment aufzunehmen.

Nothart Rohlfs

Manuskriptdruck 2010, 512 Seiten, 21 €/34 SFr, Bestellung: mail@das-seminar.ch

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