Johannes Kepler

Porträt

Auf einem 1627 gemalten Porträt von Kepler, das sich in der St. Thomas-Stiftung in Straßburg befindet, ist eine eher schmächtige, nicht eben große, knochige Gestalt zu sehen. Vor dem Hintergrund des taillierten Anzugs von schwarzem Stoff aus dem sechzehnten Jahrhundert, der mit weißem Spitzenstehkragen und ebensolchen Manschetten versehen ist, wirkt das Gesicht mit dem spanischen Bärtchen ausdrucksvoll. Die dunklen Augen blicken nachdenklich am Zuschauer vorbei in die Ferne. Oder ist ihr Blick nach innen gerichtet? Seit seiner Pockenerkrankung in früher Jugend scheint Kepler lebenslang ein ernsthaftes Augenleiden gehabt zu haben! Der Mund ist fest geschlossen, die linke Hand ruht auf einem Globus und hält einen Zirkel bereit.

Neue Astronomie und Harmonie des Kosmos

Wer ist Johannes Kepler? Ein Mathematiker und Astronom – angetreten als Theologe – der gegen Ende des sechzehnten und zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts in Mitteleuropa lebte, in Süddeutschland, Österreich und Böhmen, dem heutigen Tschechien. Geboren wurde er im Jahr 1571, sein Todesjahr ist 1630. Seine Zeit war geprägt durch einen Befreiungsprozess der Naturwissenschaft von der Vorherrschaft der Theologie. An diesem Prozess hat Kepler großen Anteil gehabt. Als einer der ersten Wissenschaftler anerkannte er das heliozentrische Weltbild des Kopernikus. Mithilfe des Beobachtungsmaterials des dänischen Astronomen Tycho Brahe (1546-1601) entdeckte er eine Reihe heute noch gültiger mathematischer Gesetze der Planetenbewegungen (Astronomia nova 1609 und Harmonices mundi 1619). So war er ein direkter Wegbereiter für Newtons Formulierung der Theorie der Schwerkraft (1642-1727), die man als die Antrittsvorlesung der Naturwissenschaften bezeichnen kann.
Dabei hält Kepler an seiner Überzeugung fest, dass das Planetensystem die Gestalt von fünf ineinander geschobenen regelmäßigen Vielflächnern besitze, den sogenannten platonischen Körpern. Auffallend seine diesbezügliche schriftliche Äußerung: „Nun aber seht, wie Gott durch mein Bemühen auch in der Astronomie gefeiert wird.“ Denn bei aller wissenschaftlichen Annäherung bleibt die Natur für Kepler doch Gottes Werk. Und in diesem offenbart sich Gott ebenso wie durch sein Wort, die Bibel. Die Schrift, in der Kepler diese Sicht im Jahr 1596 entfaltet, trägt denn auch den Titel Mysterium cosmographicum.

Die Gegenreformation

Nach den kirchlichen Reformen durch Luther und Calvin zu Beginn des 16. Jahrhunderts, die von Süddeutschland ausgegangen waren, hatte gegen dessen Ende die gegenreformatorische Bewegung der ‚allgemeinen’ – katholischen – Kirche an Stärke zugenommen. Kepler, von Hause aus lutherischen Glaubens, bekam unmittelbar mit den Folgen dieser Bestrebungen zu tun. Nicht dazu bereit, seinen Glaubenseinsichten untreu zu werden, wurde er mit Frau und Kindern 1599 aus Graz in Österreich ausgewiesen, wo er Mathematik unterrichtete.
Wohin sollte er sich wenden? Seine Hoffnung, mit Unterstützung seines ehemaligen Lehrers Mästlin einen Lehrstuhl in Tübingen zu erhalten, wird zunichte gemacht, und er reist nach Prag, um sich dort nach der Lage der Dinge zu erkundigen. In Prag residiert zu dieser Zeit Kaiser Rudolf II., welcher großes Interesse für Alchemie und Astronomie besitzt und soeben im Nordosten der Stadt dem dänischen Astronomen Tycho Brahe in Schloss Banatek eine Sternwarte errichtet hat. Keplers Mysterium cosmographicum war von Tycho nicht unfreundlich aufgenommen worden. Er hatte in Kepler den genialen Denker erkannt, der seinen eigenen Schatz an Beobachtungsunterlagen zu den Planetenbewegungen möglicherweise in ein System würden bringen können.

Die Begegnung

Am 4. Februar 1600 findet die erste Begegnung zwischen Kepler und Tycho Brahe statt. Kepler ist zu diesem Zeitpunkt 28, Tycho 53 Jahre alt. An der Schwelle zur Neuzeit finden sie einander in ihrer Leidenschaft für die Astronomie. Die neue Lehre des Kopernikus dürfte ein dankbares und bewegendes Gesprächsthema zwischen ihnen gewesen sein, dies umso wahrscheinlicher, wenn man bedenkt, dass keine zwei Wochen später Giordano Bruno auf Betreiben der Inquisition seine Übereinstimmung mit Kopernikus mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen bezahlen muss (17.2.1600). Ihre Ansichten gehen jedoch auseinander, und noch größer erweisen sich die Gegensätze auf sachlichem sowie persönlichem Gebiet. Tycho, von adliger Herkunft und daran gewöhnt, alles von den Augen abgelesen zu bekommen, gebärdet sich als ein lästiger alter Patron. Kepler muss um den Zugang zu seinem Beobachtungsmaterial geradezu betteln. Eine ihn beleidigende Sitzordnung bei Tisch bildet den Tropfen, der das Fass für den selbstbewussten Kepler zum Überlaufen bringt. Die gemeinsame Liebe zu den Sternen und der Wunsch nach Zusammenarbeit erweisen sich jedoch als stärker als ihre Uneinigkeit. Allerdings kommt es auch weiterhin von Zeit zu Zeit zu gegenseitigen Irritationen.

Das geistige Erbe

Nachdem er im August als Protestant aus Graz ‚auf ewig’ verbannt worden war, findet im September der Umzug des völlig mittellosen Kepler mit seiner Familie nach Banatek statt. Ein schwieriges halbes Jahr ist vorausgegangen, in dem der Achtundzwanzigjährige viel krank war. Er hatte Malaria mit schubweise alle paar Tage auftretendem hohem Fieber.
Dann stirbt Tycho Brahe ganz unerwartet im Oktober 1601. Ein knappes Jahr nur war ihnen für die gemeinsame Arbeit vergönnt. Kaiser Rudolf II. ernennt Kepler als Nachfolger Tychos zum Hofmathematiker. Die Früchte von dessen Lebenswerk, das außerordentlich sorgfältig erstellte sternkundliche Beobachtungsmaterial, entfaltet in Keplers Händen unschätzbaren Wert und wird zur Grundlage der Naturwissenschaft der Neuzeit. Kepler selbst äußert sich dazu folgendermaßen: „Wenn Gott um die Himmelskunde besorgt ist, was zu glauben Frömmigkeit verlangt, so hoffe ich, dass ich auf diesem Gebiet etwas leisten werde, da ich sehe, wie mich Gott durch ein unabänderliches Schicksal mit Tycho verbunden hat und mich selbst durch die drückendsten Beschwernisse nicht hat von ihm getrennt werden lassen.“

Vater: Söldner – Mutter: Hexe

Johannes Kepler wurde im siebten Monat als ältestes Kind am 27. Dezember 1571 in Weil der Stadt in Süddeutschland geboren. Er sollte zeitlebens eine anfällige Konstitution behalten. Sein Vater Heinrich, von Kepler als jähzornig und eigensinnig beschrieben, kämpft als Söldner für den Herzog von Alba – und obwohl Protestant! – für die katholische Sache. Seine Mutter Catharina übersteht die Pest, lässt anschließend die Kinder bei ihrer Schwiegermutter zurück und macht sich in die südlichen Niederlande auf den Weg, ihren Mann zu suchen. Zur selben Zeit erkrankt Johannes an den Pocken, die er überlebt, von denen er jedoch ein schwerwiegendes Augenleiden davonträgt. Auch von seiner Mutter schreibt Kepler, dass sie nicht einfach gewesen sei, sondern dazu neigte, Streit zu suchen. Viel später, im Jahr 1615, wird sie als Hexe verfolgt und angeklagt. Der Sohn bemüht sich ganze sieben Jahre lang bis zum Äußersten, sie frei zu bekommen. 1577 sieht er, von seiner Mutter geführt, den damaligen großen Kometen, auch sein Vater nimmt ihn einmal mitten in der Nacht mit und zeigt ihm eine Mondfinsternis. Als Johannes neun Jahre alt ist, verliert der Vater in einer Seeschlacht sein Leben. Trotz der weiterhin chaotischen Familienverhältnisse entwickelt der Sohn sich intellektuell erfreulich. Wegen seiner schwächlichen Konstitution sorgt die Mutter dafür, dass er von allzu schwerer Landarbeit verschont bleibt, und Johannes will auch gern lernen! Nach dem Besuch regionaler Schulen protestantischer Provenienz beginnt er als Siebzehnjähriger in Tübingen mit dem Studium der Theologie.

Lehrzeit

Im Rahmen des Propädeutikums begegnet Kepler hier seinem verehrten Lehrmeister, dem Mathematiker und Astronomen Michael Mästlin. Dieser schob seinen Studenten unter dem Tisch das gewagte heliozentrische Weltbild des Kopernikus als eine Denkmöglichkeit zu. Und war auch Keplers Herzensanliegen das Predigeramt, so zeigt sich doch rasch seine besondere Begabung für Zahlen und Verhältnisse. Kepler lernt in dieser Zeit gut griechisch, wodurch es ihm möglich wurde, sich im Urtext mit Pythagoras, Plato, Plutarch und Aristoteles zu befassen. Tübingen war zu jener Zeit der Brennpunkt der theologischen Auseinandersetzung im reformatorischen Streit zwischen Calvinisten und Lutheranern, wodurch sogar die Katholiken als der gemeinsame Feind aus dem Blickfeld verschwanden. Kepler nimmt hier eine gemäßigte Rolle ein. Von Natur aus sucht er nach harmonischen Verhältnissen. Später wird er sein großes Werk Harmonices mundi nennen, die ‚Harmonien der Welt’, die aus seiner Sicht das Fundament jeglicher Harmonie in der Menschenwelt bilden. Kepler versuchte wiederholt mithilfe von Mästlin, u.a. durch geradezu rührende Inanspruchnahme ihrer Freundschaft, Anschluss an die etablierte und alteingesessene Welt der Universität von Tübingen zu erlangen. Es gelang ihm nicht. Seine Treue gegenüber dem reformatorischen Gedankengut verbot es ihm, Wasser in den Wein zu mischen oder zu heucheln.

Rechtschaffen und geradlinig

Seine Eigenschaft der Treue und Konsequenz in allem, was er als Wahrheit erkannt und angenommen hat, fällt auch im Kontakt mit seinem Zeitgenossen Galilei auf. Tatsächlich kommt der Kontakt nicht wirklich zustande. Kepler schickt Galilei, der als Mathematiker an der Universität von Padua tätig ist, unmittelbar nach Erscheinen im Jahr 1597 sein Mysterium cosmographicum. Eine inhaltliche Erwiderung erhält er von diesem nicht, der zwar von den Erkenntnissen des Kopernikus überzeugt ist, vorläufig jedoch für diese nicht öffentlich eintreten will, ängstlich wie er ist vor möglichen Repressalien aus Rom. Kepler ermutigt ihn: „Seien Sie guten Mutes, Galilei, und kommen Sie in die Öffentlichkeit. Wenn ich nicht irre, gibt es unter den bedeutenden Mathematikern Europas nur wenige, die sich von uns trennen wollen. So mächtig ist die Wahrheit.“
Der zweite, ziemlich einseitig verlaufende Briefwechsel zwischen Kepler und Galilei erfolgt 13 Jahre später, nachdem Galilei mithilfe eines neuen optischen Instruments, dem Fernrohr, aufsehenerregende Beobachtungen gemacht hat. Kepler ist freigebig mit seinem Lob, doch obwohl auch ihm bereits zuvor in der Optik bahnbrechende, allerdings schwer zugängliche Berechnungen gelungen waren, und er sich auch nun wieder begeistert über weitere Verbesserungen Gedanken macht (in der berühmten kleinen Schrift Dissertatio Cum Nuncio Sidereo), geht Galilei nicht auf ihn ein. Christiaan Huygens und Isaac Newton werden dies Jahre später tun. Auch weigert sich Galilei auf Keplers Bitte, diesem ein Fernrohr zu senden und verschlüsselt seine eigenen Beobachtungen in dunklen Anagrammen. So zerbricht sich Kepler den Kopf über die Buchstabenkombination ‚smaismrmilmepoetaeumibunenugttauiras’, deren Auflösung Galilei erst auf wiederholtes Drängen preisgibt: altissimum planetam tergeminum observavi (ich habe den höchsten Planeten – Saturn – dreifach gesehen). Galilei und Kepler, zwei Riesen auf dem Feld der neueren Naturwissenschaften: Es ist eine Tragik, dass sie einander aufgrund ihrer so völlig verschiedenen Charaktere nicht wirklich begegnen.

Astronomia nova

Nach dem Tod von Tycho Brahe, im Jahr 1601, wirkt Kepler von 1601 bis 1612 in dessen Nachfolge als Mathematiker und Astrologe am Hof Kaiser Rudolfs II. in Prag. Während dieser Zeit bildete Prag ein in religiöser Hinsicht tolerantes kulturelles und geistiges Zentrum.
Zwar besaß Kepler eine ehrenvolle und gut dotierte Anstellung, doch war die Hofschatulle in Folge des Krieges gegen die Türken häufig so leer, dass Kepler zwar viel zu fordern hatte, jedoch nie über eine gut gefüllte Börse verfügte. Trotzdem war es ihm dank Kaiser Rudolf möglich, in jenen Jahren die Beobachtungen des Planeten Mars, die Tycho während 20 Jahren äußerst gewissenhaft unternommen hatte, ungestört verarbeiten zu können. Die dem Kaiser gewidmete Astronomia nova ist das Ergebnis. Der Primat der Beobachtung ist für die Wissenschaft eine Tatsache. „Das ist mein Entzücken, dass es mir gelungen ist, eine Astronomie ohne Hypothesen zu errichten“, und des Weiteren: „Ich bringe eine Physik des Himmels anstelle einer himmlischen Theologie und der Metaphysik des Aristoteles“, so äußert er sich selbst dazu. Über sein Verhältnis zu den Lehren der Kirche lässt er kein Missverständnis aufkommen: „Die Bibel ist kein Lehrbuch der Optik und Astronomie – widersetzt euch diesem Missbrauch, ihr Theologen!… Wer zu einfältig ist, die Astronomie zu verstehen, oder zu kleinmütig, um ohne Angst für seine Frömmigkeit dem Kopernikus zu glauben, dem gebe ich den guten Rat, die Schule der Astronomen zu verlassen und sich seinen Geschäften zu widmen.“6

Harmonices mundi

Es ist durchaus charakteristisch für Kepler, dass er für die eigene Frömmigkeit im Grunde nichts befürchtet. Die gesamte neue Astronomie, die er einführt, dient der höheren Ehre des Schöpfers. Kepler bleibt sich selbst treu in der einst getroffenen Wahl, Theologe zu werden. Der Seitenpfad der Astronomie, den er dabei so leidenschaftlich eingeschlagen hat, ist und bleibt ein Seitenweg innerhalb der religiösen Grundausrichtung seines Leben. Das geht nur allzu deutlich aus jenem Werk hervor, welches er als sein zentrales betrachtet, den Harmonices mundi. Das ganze Werk atmet Keplers Metaphysik, seine lebenslange Suche, aus den astronomischen Fakten, aus der Natur selbst, den göttlichen Schöpfungsplan zu erschließen. Im dritten Buch der Harmonices mundi behandelt er die Musik. Der menschliche Geist, so Kepler, folgt in der Entfaltung der musikalischen Gesetzmäßigkeiten denselben Verhältnissen, nach denen Gott die Bewegungen der Gestirne am Himmel angeordnet hat.

aus: Paul Wormer, Lili Chavannes, Ate Koopmans: Blick aufs Karma. Schicksalselemente im Lebenslauf, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004, aus dem Niederländischen: N.Rohlfs, S. 239 ff.