Jutta LauerJoseph Beuys

Unsere Freundschaft mit dem Aktionskünstler Joseph Beuys hat eine Vorgeschichte. Im Studienhaus Rüspe im Sauerland traf sich seinerzeit aufgrund der Initiative einer Ärztin, Frau Dr. Thon, regelmäßig ein größerer Kreis von Menschen zu gemeinsamen Beratungen.
Frau Dr. Thon sagte einmal in diesem Zusammenhang, – es war die Zeit der 68er-Bewegung: „Die jungen Leute stehen heute von Amerika über Paris bis Prag und Berlin auf der Straße und kennen nur Marx oder Mao. Und wir als Anthroposophen kennen die Ideen der sozialen Dreigliederung, und es gibt nichts, keinen Ort, keinerlei Anlaufstelle, kein Zentrum, wohin man sich wenden könnte, um diese Ideen kennen zu lernen bzw. etwas über die soziale Dreigliederung zu erfahren.“ In diesem Kreis waren wir, die Sylter und Wilfried Heidt aus der Lörracher Gegend, die einzigen, an die sich die Jungen mit ihren Fragen nach den Ideen zur Dreigliederung wandten und zu denen sie kamen. Und nun saßen wir da wieder einmal zusammen, und in einem anderen Zusammenhang sagte Klaus Hartwig aus Düsseldorf: „Wenn ich mich nicht sehr irre, dann bezieht Joseph Beuys seine Ideen aus der sozialen Dreigliederung und der Anthroposophie.“ Das ließ mich aufhorchen. Hinterher sprach ich ihn an: „Könnten Sie nicht einen Kontakt zwischen Joseph Beuys und uns vermitteln?“ Er antwortete, er wolle das versuchen.
Dieses kleine Gespräch fand um die Zeit statt, als Peter Schilinski, Fred und ich unsere Reise mit dem Bausteinbrief unternahmen, um Geld für den Erwerb des späteren Humboldt-Hauses in Achberg zu sammeln. Wir hatten einen knappen Text verfasst, in dem wir formulierten, worum es uns ging. Wir brauchten Geld, um damit in Achberg am Bodensee ein Haus zu kaufen, in dem ein Zentrum für die soziale Dreigliederung entstehen sollte. Das wollten wir aufbauen. – Einige Zeit später kam Klaus Hartwig erneut auf mich zu und berichtete, er habe eine Verabredung mit Joseph Beuys für uns zustande gebracht. Also planten wir unsere Fahrtroute so, dass wir zum verabredeten Termin in Düsseldorf sein konnten. Wir fuhren in jenem Winter mit unserem Bausteinbrief ca.18.000 Kilometer durch Deutschland und machten überall Station, wohin wir gerufen wurden und wo es zum Beispiel hieß: Wir haben Geld gesammelt, oder: bei uns interessieren sich alle möglichen Leute für euer Anliegen. Wir drei saßen auf engem Raum miteinander in einem verhältnismäßig kleinen Auto, Fred am Steuer, und ich mit diesen zwei Cholerikern zusammen, bei denen man oft befürchten musste, die Scheiben würden springen, so machten die sich gegenseitig fertig und schrien sich an! Ich nahm das jedoch wie ein Naturereignis und konnte damit leben. Eines Tages machten wir uns auf den Weg zu Joseph Beuys. Es hatte geheißen, er habe in der Düsseldorfer Altstadt ein Büro für direkte Demokratie, dorthin begaben wir uns. Die Verwirklichung der direkten Demokratie war eines seiner Anliegen. Das Büro stellte sich als ein Laden heraus, in den Beuys ein oder zwei beschriftete Tafeln gestellt hatte, weiter gab es da eine Art Sitzecke. Ein bereits älterer Herr war der Ansprechpartner. Er war gut darüber unterrichtet, was Beuys zum Thema der direkten Demokratie zu sagen hatte und was sein Anliegen war. Beuys selbst konnte natürlich nicht oft anwesend sein. Sein Helfer beantwortete Fragen und versorgte die Leute mit Material, die da kamen und sich interessierten. Und Beuys hatte einige Gedanken zum Sozialen und politische Grundsätze an die Tafeln geschrieben.
Bei unserer Ankunft betraten wir also dieses Büro für direkte Demokratie und begegneten dort zum ersten Mal Joseph Beuys. Was dann folgte, ist schwer zu beschreiben. Es bildete sich sofort eine Beziehung zwischen Peter Schilinski und Joseph Beuys, aber auch zwischen Fred, mir und Beuys, die Begegnung hatte sofort eine innere Stimmigkeit und Tragfähigkeit. Eine Weile lang saßen und sprachen wir miteinander, dann betrat jemand das Büro und bat um Geld. Beuys war klar, der Betreffende wollte Geld, um es zu vertrinken. Der erzählte nun aber einen ganzen Roman. Er sei aus dem Gefängnis entlassen worden, habe leider kein Geld und wolle jetzt zu seiner Mutter fahren und so weiter. Beuys glaubte ihm nichts von seiner Geschichte und gab ihm kein Geld. Also zog er unverrichteter Dinge wieder ab. Und Beuys meinte: „Der versäuft das, weiter nichts. Das kommt nicht in Frage.“ Dann kam die Mittagszeit, und wir gingen essen, das heißt wir gingen durch Düsseldorf zu einer Art Kneipe. Dort stand in einem großen Raum ein großer runder Tisch, um den herum saßen schon eine ganze Reihe Studenten, die ihn kannten und auf ihn warteten.
Dann erlebten wir etwas Ungewöhnliches: Beuys trat ein, nahm seinen Hut ab und hängte ihn an einen Garderobenhaken. Und dann setzten wir uns in den Kreis um den Tisch. Neben mir saß Johannes Stüttgen, damals noch Student, der ganz interessiert alles Mögliche wissen wollte. Aber auch wir wollten natürlich vieles wissen. Und wir berichteten dann, was wir vorhatten und was ja schon recht konkret war, dass wir nämlich in Achberg ein Haus für die soziale Dreigliederung kaufen wollten und dazu innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit eine hohe Anzahlung zusammenbringen mussten. Mit Beuys selbst sprachen wir nicht über Geld. Wir hatten so viele Adressen und Möglichkeiten, darum ging es bei unserer Zusammenkunft nicht.
Nachdem wir gegessen hatten, schlug er vor: „Jetzt fahren wir zum Drakeplatz. Da wohne ich.“ Wir stiegen also in seinen englischen Bentley und fuhren los. Zwischendurch hielt er an einer Konditorei und kam mit einem Kuchentablett wieder heraus, darauf ein ganzer schöner Käsekuchen. Anschließend zogen wir an den Drakeplatz. Er schloss ein Holztor auf, wir betraten mit ihm die Wohnung und gelangten in ein großes Zimmer. Dort stand ein riesiges Buffet, eine altmodische Einrichtung, in dem sich alles zum Essen befand, und teilte den Raum in zwei Hälften. In der kleineren Hälfte kochte er. Und er kochte! Er brauchte immer einen gewissen Küchengeruch, ob das jetzt von Sauerkraut oder etwas anderem kam, das war unwesentlich. Aber ein gewisser Geruch, der vom Kochen ausging, war wichtig. Auch die Wärme des Kochens spielte eine Rolle, die brauchte er.
In der durch das Küchenbuffet abgeteilten größeren Hälfte des Raumes befand sich ein großes ledernes Sofa. Auf das setzten wir uns. – Beuys erledigte, wie es schien, das meiste auf dem Fußboden. Das Telefon stand auf dem Fußboden, alles mögliche Arbeitsmaterial, Zettel mit Verabredungen, alles befand sich auf dem Boden. Er wirkte glücklich mit uns und freute sich darüber, dass wir einander kennen lernten. Auch bekundete er seine Zustimmung zur Idee eines Dreigliederungszentrums in Achberg. Man konnte ihm anmerken: mit uns kann und will er. Es wurde viel zusammen gelacht und war einfach schön. Und es war völlig klar, dass es um die soziale Dreigliederung ging und dass die Anthroposophie deren Hintergrund bildete.
Zwischendurch kamen seine Frau Eva und die Kinder ins Zimmer, so nahmen wir die auch noch wahr. Und irgendwann wurde es Zeit, wieder aufzubrechen. Er fuhr uns zurück zu unserem Auto, und damit ging dann unser erster Besuch bei Joseph Beuys zu Ende.

Nun befanden wir uns wie erwähnt auf unserer Bausteinreise, hatten im Einzelnen jedoch nicht mit Beuys darüber gesprochen. Er wusste sicherlich, was es bedeutete, eine solch große Sache zu erwerben und anzupacken. Wir setzten nun unsere Fahrt fort, die uns zunächst nach Bochum führte. Grundsätzlich reisten wir von Norden nach Süden und nahmen da alles mit, was sich gemeldet hatte. Nun mussten wir aber nochmals zurück nach Bochum und sollten bei Wilhelm-Ernst Barkhoff vorbeikommen. Barkhoff hatte aus der Anthroposophie heraus neuartige Ideen zu einer Bank entwickelt, die er wenige Jahre zuvor begründet hatte. Wir sammelten auf einem Konto der noch jungen GLS-Bank die Geldspenden für den Hauskauf in Achberg und erkundigten uns gelegentlich telefonisch, wie viel bereits zusammen gekommen war. Zum Zeitpunkt des Treffens mit Joseph Beuys fehlten noch ungefähr 40-50.000 DM. Als wir nun zur GLS-Bank in Bochum unterwegs waren, meinte Fred: „Ich möchte eigentlich bei der Bank keinen Kredit aufnehmen, aber wenn sie dort für den Rest, den wir benötigen, bürgen könnten, dann wäre das schon gut.“ Als wir dort ankamen, wurden gerade Postsachen eingetütet. Das kannten wir: stundenlanges Tüten Füllen mit irgendwelchen Schriftstücken. Da wir warten mussten, schlug Fred vor, wir könnten mithelfen. Also halfen wir beim Eintüten. Eines der Kuverts steckte Fred in die Tasche, das ging an alle Kunden der Bank. Später lasen wir den Inhalt des Briefs, und da stand sinngemäß: Sie können mit Ihrem Geld einem Bauern helfen, der in Norddeutschland in Not geraten ist und so weiter. Außerdem können Sie eine Initiative unterstützen, von der man vorläufig noch nicht genau sagen kann, was sie werden soll – das war ordentlich heruntergespielt – die Achberg-Initiative. Das fanden wir im Nachhinein doch recht lustig, dass wir das Urteil über uns selbst mit eingetütet hatten! Endlich wurden wir vorgelassen und zu Rolf Kerler, dem Geschäftsführer der Bank, hineingebeten. Dieser saß hinter seinem Schreibtisch, und wir drei setzten uns davor. Nun stellten wir vor, was wir tun wollten. Kerler stellte Fragen dazu, und wir waren mitten im Gespräch, als plötzlich das Telefon auf Kerlers Schreibtisch läutete: „Ja… der ist hier…“
Da rief doch tatsächlich Joseph Beuys an und verlangte Fred! Bei Kerler in der Bank. Beuys hatte nebenbei mitbekommen, dass wir anschließend nach Bochum wollten. Nun teilte er Fred Folgendes mit: „Ich bin in Düsseldorf in meiner Werkstatt an der Akademie und habe etwas für euch. Kommt vorbei. Ich warte hier auf euch.“ Da war Fred sofort klar, wenn Beuys so etwas sagte, dann waren es vielleicht nicht 40.000, sondern nur noch 20.000 DM, die wir brauchten. Folglich würden wir die Bankbürgschaft nicht benötigen. Woraufhin er Kerler sagte: „Das war Joseph Beuys, der da gerade angerufen hat. Und wir brauchen eigentlich nichts mehr. Weder eine Bürgschaft noch etwas anderes.“ „Ach sooo geht das!“, sagte Kerler. „So geht das!“…
Anschließend kehrten wir um und fuhren zurück nach Düsseldorf. Unter seinen Räumen an der Akademie gab es einen, in dessen einer Ecke sich lauter Kartons befanden. Beuys holte einen dieser Kartons herunter, machte ihn auf und drückte Fred einen ordentlichen Packen Banknoten in die Hand. Wie viel Geld das genau war, wussten wir natürlich nicht. Dann fügte er hinzu: „Es darf nicht unter meinem Namen erscheinen.“ Woraufhin Fred meinte: „Das kriegen wir schon hin.“ Da hatten wir nun plötzlich, ich weiß nicht mehr genau wie viel, aber 20 oder 30.000 DM mehr.

aus: Jutta Lauer, Ein Drahtseilakt. Jutta Lauer erzählt aus ihrem Leben, Selbstverlag, Niefern-Öschelbronn 2010, aufgeschrieben und bearbeitet von N.Rohlfs, S. 87 ff.