mit einer Einleitung von Nothart Rohlfs

Karma und Reinkarnation im Bewusstsein der Gegenwart

Wenn bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts von Karma und Reinkarnation die Rede war, so wurden die Quellen eines solchen „Glaubens“ zumeist in östlichen Religionen gesucht. Hinduismus und Buddhismus kannten entsprechende Vorstellungen, der aufgeklärte Westen wähnte sich längst über sie hinaus.
Seit den achtziger Jahren wurde das Thema, von Amerika kommend, hierzulande erneut aktuell. Stichworte dazu: Reinkarnationstherapie, Rückführung, Regression. Es waren Techniken entwickelt worden, die beanspruchten, Menschen in Stand zu setzen, Aussagen nicht nur über pränatale Vorgänge, sondern über ihre früheren Verkörperungen zu machen. Parallel zu den aufkommenden Rückführungen wurden Forschungen bekannt, die unter Federführung des amerikanischen Psychiaters Ian Stevenson vor allem in Asien stattgefunden hatten und Aussagen von Kindern überprüften, die nach deren Selbstverständnis von eigenen Verkörperungen handelten, die meist kurz zurückzuliegen schienen.
Die geisteswissenschaftlichen Forschungen Rudolf Steiners zum Thema spielten damals wie heute im öffentlichen Bewusstsein kaum eine Rolle, obwohl sie aufgrund ihrer Eigenart, dem Erkenntnisbedürfnis des modernen Bewusstseins Rechnung zu tragen, insbesondere demjenigen als höchst aktuell erscheinen können, der sich nicht mit zeitgenössischen Neu-Offenbarungen begnügen, sondern gedanklich verstehen will, „wie Karma wirkt“ (Vortragstitel Steiner). In der entsprechenden Szene wurde bislang übersehen, daß Steiner als philosophisch wie naturwissenschaftlich gebildeter, dabei unkonventioneller Denker und Kulturinspirator, ein gedanklich außerordentlich reizvolles Konzept von Karma und Wiederverkörperung entwickelt hat, das viele üblicherweise offen bleibende Fragen schlüssig zu beantworten vermag. Sein Verständnis des Menschen beinhaltet die beiden Ideen als fundamentale Tatsachen der Entwicklung des menschlichen Geistes, die nicht nur dem Glauben, sondern menschlicher Erkenntnis zugänglich seien. Doch stießen seine Auffassungen außerhalb eines Umkreises interessierter Persönlichkeiten in der Vergangenheit häufig auf Gleichgültigkeit und Skepsis, oder sie wurden aus der Perspektive des neuzeitlichen Materialismus als unwissenschaftlich belächelt. In der Tat lassen sie sich nicht mit überholten Denkgewohnheiten über Mensch und Welt vereinbaren, sondern erfordern die Anstrengung sorgfältigen und radikalen Umdenkens in grundsätzlicher Hinsicht.
Angesichts der heute erneut zunehmenden Akzeptanz der Ideen von Reinkarnation und Karma, angesichts des reichen Angebots sogenannter Rückführungen in frühere Leben wie auch zahlreicher Veröffentlichungen vermeintlicher Erinnerungen an einstige Verkörperungen scheint es naheliegend und lohnend, sich mit dem Karmaverständnis Steiners und seinem Übungsansatz vertraut zu machen. Dazu soll dieses Büchlein Gelegenheit bieten.

Karma denken – Das Karma-Konzept Steiners

Wie lässt sich der Steinersche Karmabegriff in seinen wesentlichen Zügen charakterisieren?
Zunächst ist mit einem solchen Begriff der Gedanke der aufeinander folgenden Erdenleben untrennbar verknüpft. Karma verbindet die früheren mit der gegenwärtigen Verkörperung bzw. diese mit den folgenden Inkarnationen im Sinne eines Zusammenhangs früherer Ursachen mit später eintretenden Wirkungen.
Steiner gebraucht zur Erläuterung dieses Zusammenhangs gelegentlich den Vergleich mit einem Bogen.1 Der Schuss des Bogens erzielt gewisse Wirkungen. Zugleich sind bei dessen Nutzung Rückwirkungen auf ihn selbst beobachtbar. Die Sehne wird schlaffer, das Holz verändert sich durch den Gebrauch.
In einem vergleichbaren Sinn wirken die Handlungen des Menschen auf ihn selbst zurück. Seine Taten und Unterlassungen im weitesten Sinne – also auch alles, was er mittels seiner Sinne wahrnimmt und mithilfe seiner Erkenntniskräfte verrichtet – kehren in ihren Folgen in verwandelter Form in späteren Verkörperungen zu ihm zurück. Doch sind diese Rückwirkungen, anders als beim Bogen oder einem genutzten Handwerkszeug, weder ihrer Art noch dem Zeitpunkt ihres Eintreffens nach vorhersehbar. Und während der Bogen unter den anhaltenden Rückwirkungen gleichsam ein anderer wird, treffen die karmischen Rückwirkungen auf die unveränderliche geistige Individualität. Nur deren seelische (astralische) und leibliche (ätherische und physische) Umhüllung unterliegt im Laufe der Verkörperungen den Auswirkungen früherer Geschehnisse und wandelt sich dementsprechend. Die Individualität erfährt dadurch zwar entscheidende Bereicherungen und Vertiefungen, in ihrem Kern aber bleibt sie sich gleich.
So kann von Karma im grundsätzlichen Sinne gesprochen werden als von einem gesetzhaften Verwandlungsverlauf selbst geschaffener Ursachen in Wirkungen, gemäß dem sich die unzerstörbare geistige Individualität des Menschen im Laufe vieler Inkarnationen entfaltet und entwickelt.
Dabei wandeln sich menschliche Taten und Erfahrungen in einer Weise zu „Welt“, die auf den ersten Blick überraschend ist. Dies geschieht auf zweierlei Weise. Zum einen bilden sich aus ihnen im Verlauf mehrerer Verkörperungen sowohl unser seelisches Innenleben, unsere Leiblichkeit, Physiognomie und Gestalt – zum anderen aber auch die Ereignisse und Begebenheiten, die uns, gleichsam eine Art Milieu bildend, von außen umgeben. Die Wandlung geschieht in der Zeit nach dem Tode und vor einer neuen Geburt unter Mitwirkung eines umfassenden Kosmos geistiger Wesen, dessen hervorragendstes der kosmische Christus ist. Der Ich- oder Individualitätsbegriff, wie wir ihn gemeinhin etwas vage verwenden, erfährt unter Einbeziehung solcherart gefasster Ideen von Karma und Reinkarnation eine entscheidende Erweiterung. Unsere Individualität wirkt danach nicht nur „von innen“, durch und aus dem Leib und der Seele, vielmehr wirkt sie zugleich mithilfe der Ereignisse, die „von außen“ unsere Biografie bilden, und die wir gleichsam „von innen“, aus seelisch-leiblicher Perspektive erleben.
Dabei kann im Einzelnen unsere Leiblichkeit als die karmische Folge vergangener Bewusstseinsprozesse verstanden werden. Sie ist Ergebnis der eigenen früheren Aufmerksamkeit für die umgebende Welt, Ergebnis der Wahrnehmung mithilfe der Sinne, sowie Auswirkung starker oder schwacher, hierhin oder dorthin gerichteter Erkenntnisbestrebungen und deren unterschiedlicher Eigenschaften.
Die uns umgebenden und zustoßenden Ereignisse hingegen sind im engeren Sinne Folge eigener früherer Taten und Unterlassungen in der Welt.
Selbstverständlich sind sowohl Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse wie auch Taten und Handlungen eng miteinander verwoben und durchdrungen. Die gegebene Gliederung bietet eine Art Orientierung, weder kann noch will sie kategorisch trennen oder Grenzen definieren. Denn Zugewandtheit und Interesse an der Welt sowie Handlungen durchdringen einander, das eine weist dem anderen den Weg, das zweite ermöglicht ersteres. Der Blick des Architekten, des Musikers oder Mathematikers auf die Welt ist eng verbunden mit deren jeweiliger Tätigkeit, beide bedingen und ergänzen einander. Beide aber, sowohl Weltinteresse und Erkenntnisstreben, als auch tätiges Handeln und Gestalten der Welt, können sehr unterschiedliche Züge besitzen: Erfolgt eine Tat aus Mitgefühl, Zwang, Begeisterung, Pflicht oder Gehorsam? Entsteht Interesse an den Erscheinungen der Welt aus Neugier, Freude, Wissensdurst, aus betroffenem Berührtsein oder berechnendem Eigennutz? Ist die Aufmerksamkeit stark oder schwach, richtet sie sich auf Technik, Kunst oder Sport? Regt die Welt zum Nachdenken und Besinnen an, bietet sie Anlass zu lebensvollem Genuss oder zu engagierter Tätigkeit?
Wie verschieden die Welt genommen werden kann, wie unterschiedlich menschliches Handeln ausfällt, so vielfältig und nuancenreich gestaltet sich auf dieser Grundlage das menschliche Karma.

aus: Rudolf Steiner, Die große Karma-Übung, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2010, Einleitung von N.Rohlfs, S. 7 ff.