Informiert man sich auf der Webseite des bekannten Internet-Buchhandels Amazon über die Engel-Literatur der letzten Jahre, so fallen Titel auf wie die folgenden: Engel begleiten Deinen Weg; Engel-Notruf: Himmlische Hilfe zu jeder Zeit; Die Engel antworten; Engel-Hilfe für jeden Tag; Der Engel-Ratgeber: In jeder Lebenslage Schutz, Beistand und Trost durch die himmlischen Wesen finden; Erzengel und wie man sie ruft
Ohne die Bücher zu kennen, die sich hinter diesen und ähnlichen Titeln verbergen, kann man doch den Eindruck gewinnen: Die hier gemeinten Engel sind für den Menschen in Aktion. Sie stehen ihm, wenn er ihrer bedarf oder mit ihnen in Kontakt treten will, selbstverständlich und jederzeit zur Verfügung. Die dabei angeregte Vorstellung der Engel: kundenfreundliche, Service-orientierte Dienstleister, innovativ, open minded, gemeinnützig, allerdings (in der Regel) unsichtbar.
Im Vergleich dazu mutet der Titel des zuletzt ins Deutsche übersetzten Buches von Andrei Pleşu, Das Schweigen der Engel, so an, als seien die Engel von ihrer kundenorientierten Unternehmensstrategie abgekommen, als befänden sie sich in Streik, oder als handle es sich ganz einfach nicht um dieselbe Spezies, von der hier die Rede ist.
Was uns heute zumeist unter dem Stichwort Engel begegnet, sind die Engel der erstgenannten Sorte. Sie scheinen zuständig für das uns Menschen Dienliche und Nutzbringende, für all das, was wir ersehnen und hoffen, ja sie erscheinen zuweilen als eine Art Erfüllungsgehilfen des menschlichen Egoismus. Engel hingegen, die schweigen, öffnen den Blick für ganz andere Welten und wecken allein durch ihr Schweigen Empfindungen anderer Art. Eine dementsprechende Stimmung scheint jene berühmte, von Dürer dargestellte engelhafte Gestalt auszustrahlen, die in dessen Kupferstich Melencolia I den Mittelpunkt bildet. Einem stillen, betrachtenden Sinnen hingegeben, versinnbildlicht sie die Aktivität eines meditativen Tuns, das gewöhnliches menschliches Maß übersteigt.

Wer ist der Denker und Autor, der uns unter solchen Vorzeichen in die Welt der Engel einzuführen unternimmt? Andrei Pleşu ist rumänischer Philosoph, Kunsthistoriker und Politiker. Er gehörte dem Dissidentenkreis um den Philosophen Constantin Noica an und musste 1982, bald nach Beendigung seines Studiums, Rumänien verlassen. Nach seiner Rückkehr wurde er in ländliche Abgeschiedenheit verbannt. Nach den Umwälzungen von 1989 jedoch und dem Sturz des Ceauşescu-Regimes wurde er bis 1991 Kulturminister des Landes, 1994 war er Mitbegründer des New European College, das er nach dem Vorbild des Institute for Advanced Study in Princeton ausbaute und bis heute leitet. Zwischen 1997 und 1999 intensivierte er als parteiloser Außenminister Rumäniens die Annäherung seines Landes an den Westen. Er hat einen Lehrauftrag für Religionsphilosophie in Bukarest inne und war als Gastprofessor tätig u.a. in Berlin. Für seine politische und literarische Tätigkeit wurde er wiederholt ausgezeichnet.
Die Schrift Pleşus beinhaltet eine zeitgenössische „kleine Engelkunde“, eine Angelologie. „Vorgenommen habe ich mir […], dem heutigen, üblicherweise skeptischen und theologisch zumeist ungebildeten Leser, der sich immerhin einen Rest Neugier und intellektuelle Rechtschaffenheit bewahrt hat, die Engel als plausiblen Gegenstand nahezubringen. Ich habe mich, anders ausgedrückt, darum bemüht, der Angelologie die kulturelle Würde und die existentielle Prägekraft wiederzugeben, die sie, wie ich glaube, verdient.“
Das so Vorgenommene wird in einer behutsamen, unspektakulären, gelegentlich fast zärtlich zu nennenden Weise angegangen und verfolgt, den Gegenstand der Besinnung von verschiedensten Gesichtspunkten aus in den (inneren) Blick nehmend, jenen suchend, befragend, in skizzenhafter Form herausarbeitend, dabei mit lebendiger gedanklicher Frische und Klarheit, konsequent, voller Überraschungen, ohne falsche Kompromisse.
Zwei Denkbewegungen Pleşus scheinen mir grundlegend, ohne deren Verständnis seine Ausführungen nicht in ihrer besonderen Fruchtbarkeit für die Annäherung an ihr Thema erfasst werden können. So rückt der Autor dem Denken in einander ausschließenden Gegensätzen, sogenannten Dichotomien, energisch zuleibe. Beliebte Gegensatz-Konstruktionen wie „Materie und Geist“, „Leib und Seele“, „gut und böse“ machen den Reichtum der Welt zunichte, verunmöglichen ein nuanciertes und einfühlsames Verständnis der Welt und erst recht des Menschen. Entwicklung menschlicher Individualität von A nach B ist nicht denkbar ohne die Integration, die Überwindung, das In-sich-Enthalten scheinbarer Gegensätze und Widersprüche. Darüber hinaus schließt das entsprechende Denken jegliche möglichen Zwischenwelten von vornherein aus, es hat den Zwischenraum zwischen Gott und dem Menschen geradezu systematisch entleert. Dabei ist es eine Tatsache, daß die heiligen Schriften aller großen Kulturen dieser Welt einhellig davon ausgehen, daß der Bereich zwischen dem höchsten Wesen und dem irdischen Dasein außerordentlich dicht, lebendig und vielfältig bevölkert ist.
In diesem Zwischenreich sind die Engel zu suchen, in ihm bewegen sie sich, haben ihr eigentliches Lebens- und Aufgabenfeld. Hier können sie gefunden und gedacht werden. Die Engel als Phänomene bzw. Wesen des Dazwischen, der Übergänge, des botenhaften Unterwegs-Seins; entsprechend die Bezeichnung als „Geister des Zwielichts“. Pleşu beschäftigt sich mit ihnen, indem er die binären Weltentwürfe beharrlich verwirft und deren beschränkende Wirkungen für die Erkenntnis treffend benennt. Jenseits solcher Anschauungen, Welten der Zwischenräume und Übergänge auslotend und erhellend, findet er einen Weg, sich seinem Gegenstand zu nähern.
Eine weitere Revision des wohl den meisten von uns zunächst eigenen Alltagsdenkens nimmt Pleşu vor, indem er verbreitete Vorstellungen von innen und außen, sofern sie Wesen betreffen, in Frage stellt und in sachgemäße Ordnung bringt. Unbedacht neigen wir dazu, den „Geist“ in unserem „Inneren“ anzusiedeln, dieses Innere mit Begriffen der Subjektivität erfassen zu wollen und es im Verborgenen hinter unserer leiblichen Hülle festzumachen. Um Welt und Wirksamkeit der Engel zu denken, sind derartige Vorstellungen alles andere als hilfreich.
Die Betrachtung mittelalterlicher Kunst bringt uns weiter: Der Nimbus bzw. Heiligenschein als Ausdruck einer Qualität des Inneren wird außen um das Haupt der Dargestellten gelegt. Ebenso wird in vielen alten Reliefplastiken z.B. an Kathedralen die menschliche Gestalt umgeben von einer Art Mandel, der Mandorla, die ebenfalls seelische und geistige Qualitäten zum Ausdruck bringen soll, welche wie eine Art Mantel das Äußere des Leibes umhüllen. Hier umgibt die Innerlichkeit eines Wesens dessen äußeren Körper wie die Schale einen Kern. Der Geist bildet Umkreis, aus dem sich die physischen Körper gleichsam herauskristallisieren.
Wenn nun in dieser „Äußerlichkeit“ des Geistes, jenem autonomen Reich, welches Gott und dem Menschen gemeinsam ist und sie umfasst, sich zugleich auch zwischen ihnen aufspannt, die Engel als Boten und Vermittler aufgesucht werden,- mit welchen Mitteln kann dies geschehen? Welches ist das „Organ“ für die Wahrnehmung der Zwischenwelten, in denen die Engel ihre Heimat haben? Das gesuchte Organ, so Pleşu, gehöre zur Familie der Einbildungskraft. Wie diese in ihrer Form als Einbildung  rein subjektive Bildwelten hervorbringe, die nur in ihrem Erzeuger Wirklichkeitswert besitzen, so sei dies bei der Vorstellung anders. Diese in ihrer ursprünglichen Bedeutung darf verstanden werden als eine Wirklichkeit heraussetzende schöpferische Tätigkeit. Die Schöpfung der Welt ist im höchsten Sinne eine ursprüngliche Vor-Stellung Gottes. Gott imaginiert die Welt im Sinne des Setzens einer in sich selbst bestandsfähigen Wirklichkeit, die zuvor nicht besteht. Die Imaginatio vera ist es, die, unendlich viel produktiver als alle menschliche Phantasie und von gleicher Beschaffenheit wie die Schöpferkraft Gottes, die Welt der Engel als eine wahrhafte Wirklichkeit zu „visualisieren“ vermag.
Vor diesem Hintergrund entfaltet Pleşu in teilweise beinahe aphoristisch zu nennender Form einen weiten Wurf an vielfältigen Engel-Gedanken, welche u.a. die Musik, das Böse, das Verhältnis zum Menschen, das Bildhafte, die Völker, die Liebe und das Opfer sowie das Schweigen berühren und beinhalten. Neben der eigenen Weitsicht und geistigen Bereitschaft des Autors, immer wieder Neues und Ungewohntes zu denken, kommt bei seinen Ausführungen ein ungeheurer Kenntnisschatz an Engel-Motiven zum Tragen, die sich weit über den christlichen religiösen Kontext hinaus erstrecken.

Der Rezensent schließt sich in Bezug auf das vorliegende Werk von ganzem Herzen der Bemerkung Pleşus an: „Das Nachdenken über Engel ist, so viel kann ich versichern, eine gute Therapie gegen intellektuelle Mediokrität, vor der niemand ganz gefeit ist.“

Nothart Rohlfs

Der Artikel zum Download: Rohlfs-Rezension Plesu