Am 9. Juni ist es wieder soweit. Die 13. Documenta – in diesem Fall „dOCUMENTA (13)“ – öffnet in Kassel ihre Tore. Erwartet werden um die 750 000 Besucher aus aller Welt, entsprechend der Besucheranzahl der Documenta 12 vor fünf Jahren.
Die weltweit herausragendste Ausstellung für zeitgenössische Kunst will mit rund 150 ausstellenden Künstlern und ca. 1,5 Quadratkilometern Ausstellungsfläche erneut ihrem Ruf alle Ehre bereiten.
Seit gut zwei Jahren laufen die Vorbereitungen, die ansonsten eher weniger Aufsehen erregende Stadt Kassel für den Zeitraum von hundert Tagen (bis zum 16. September)wieder einmal in eine Weltmetropole der modernen Kunst zu verwandeln. Vieles wurde bereits publiziert, die Namen der beteiligten Künstler wurden unterdessen bekannt gegeben, verschiedenste Aktionen und Aussagen im Vorfeld werfen ihr Licht voraus auf Stil und Duktus der diesjährigen Documenta. Die Exponate selbst bleiben bis kurz vor der Eröffnung unter Verschluss.

Als begeisterter Besucher der Documenta 12 erinnere ich mich: Die damals von Roger Buergel als künstlerischem Leiter sowie der Kuratorin Ruth Noack konzipierte Ausstellung umfasste Arbeiten von 109 Künstlern aus 43 Ländern. Sie stand unter einem dreifachen Motto: „Ist die Moderne unsere Antike?“ – „Was ist das bloße Leben?“ – „Was tun?“
Buergel formulierte seinerzeit: „Es ist kein Zufall, dass diese Leitmotive als Fragen formuliert sind, schließlich machen wir die Ausstellung, um etwas herauszufinden.“1
Mit dem ersten, schon im Mai 2010 der Öffentlichkeit präsentierten Kunstwerk scheint die künstlerische Leiterin der Documenta 13, Carolyn Christov-Bakargiev, in gewisser Weise anzuknüpfen an die Frage ihres Vorgängers nach dem „bloßen Leben“ und die dazugehörige Thematik: Leben, sein Entstehen und Vergehen, seine Gesetzmäßigkeiten, Leben und Tod. Vermutlich unterläuft ihr die Anknüpfung an die Frage Buergels eher nebenbei, trotzdem ist der gegebene Bezug erwähnenswert,- ob gar charakteristisch für einen Grundzug der bevorstehenden 100 Tage als Ganzes, bleibt abzuwarten: In der Kasseler Karlsaue, einem zentralen Parkgelände, dem bei der diesmaligen Documenta die Funktion eines Außengeländes für Exponate der Ausstellung zukommt, befindet sich bereits seit bald zwei Jahren eine imposante Bronzeskulptur von neun Metern Höhe des italienischen Künstlers und Vertreters der „arte povera“, Giuseppe Penone: ein hoch aufragender blattloser Baum, in dessen gestutzten Ästen ein Felsbrocken thront, mit der Bezeichnung „Idee di Pietra“ (Ideen aus Stein). Am Fuße der Skulptur pflanzte Penone eine kleine Stechpalme, die zur Eröffnung der Documenta 13 eine stattliche Größe erreicht haben dürfte.
Nimmt man probehalber diese Skulptur als Phänomen ernst, so erfährt man ungefähr das Folgende: Ein Baum, der selbst weder Krone noch Blätter besitzt, dessen Leben also, fände man ihn irgendwo in der Natur, bereits (herbstlich, winterlich oder für immer) zurückgenommen bzw. verloschen wäre, trägt einen mächtigen Stein und hebt ihn über seinen Ursprungsort hinaus in die Höhe, Luft und Licht entgegen. Der emporgehobene Felsbrocken wird der ursprünglich in ihm wirkenden Gesetzmäßigkeit der Schwerkraft scheinbar „enthoben“. Er wird in gewisser Weise belebt, indem er über sein angestammtes Element hinausgehoben wird. Daneben die anfangs noch kleine Stechpalme. Auch sie hebt sich in die Höhe, aber sie tut dies, indem sie gleichsam in ihr eigentliches Sein und Element hineinwächst, während der erhobene Stein aus dem seinen „herauswächst“, entfernt wird.
Über diese merkwürdige, nebeneinander positionierte Polarität nachdenkend, ergeben sich verschiedenste Gedanken: Die zu ihrer vollen Größe aufwachsende Stechpalme bringt eine zentrale Gesetzmäßigkeit alles Lebendigen zur Anschauung. Das Geschehen ist Abbild dieser Gesetzmäßigkeit. Der erhobene Stein hingegen wird den Gesetzen des „Steinernen“ sozusagen zum Schein entzogen und gleichsam „gesetzfremd“ einer anderen Welt eingefügt. Er tritt eine Art Übergang an in eine andere Welt, die nicht die seine ist. Wird diese ihn als Stein aufnehmen? Oder wird sie ihn, bevor er ganz in sie eintritt, verwandeln?
Warum diese – zugespitzten – Überlegungen? Vieles, was im Findungsprozess der kommenden Documenta über leitende Wünsche und Motive, Fragestellungen und Gedankengänge bekannt geworden ist, womit sich die künstlerische Leiterin sowie an der Ausstellung beteiligte Agenten, Berater und Künstler beschäftigen, ließe sich zwanglos hier anknüpfen. Und dies in mehrerer Hinsicht.
Außer der kleinen Stechpalme durch Penone wurden von Carolyn Christov-Bakargiev und dem indianischstämmigen Künstler Jimmie Durham zwei weitere Bäumchen auf dem Entstehungsweg zur Documenta gepflanzt, nahe der die Stadt Kassel durchziehenden Fulda, im sogenannten Kirschgarten, zwei Apfelbäumchen verschiedener Sorten mit ungewöhnlichem Hintergrund: die eine wurde im Konzentrationslager Dachau gezüchtet, die andere stammt aus Arkansas, der indianischen Heimat Durhams.
Einen weiteren „Brocken“ hätte Christov-Bakargiev gerne nach Kassel geholt: den 37 Tonnen schweren El Chaco, einer jener Meteoriten, auf die das Campo del Cielo – Feld des Himmels – im nördlichen Argentinien zurückgeht und der für Guillermo Faivovich und Nicolás Goldberg Ausgangs- und Mittelpunkt künstlerischen Arbeitens bildete.2 Auch hier: ein „Stein“, der gleichsam eine andere Sprache spricht, und ebenfalls einen Sonderweg genommen hat, verglichen mit der Welt der Gesteine auf der Erde.
Christov-Bakargiev wünscht sich ihre Documenta als „Ort vieler Geheimnisse“ und „Raum möglicher Heilung“. Sie interessiert sich ausgesprochenermaßen für Übergänge, Grenzen, Grenzübergänge, Grenzübertritte und für Menschen, die diese erforschen und sich mit ihnen beschäftigen. Entsprechend wurden viele „ihrer“ Künstler zur diesjährigen Documenta ausgewählt. So die beiden zuletzt Genannten oder Alejandro Jodokowsky, der sich der „Psychomagie“ gewidmet hat, der Kunst, die heilen kann.3
Und da gibt es, auch jetzt bereits vorliegend, jenes Projekt im Zugang auf die hundert Tage: „100 Notizen – 100 Gedanken“ – eine Auswahl von Notizbüchern von Individualisten zu Themen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Documenta klingt in ihnen an wie eine Art vorgeburtliches Bild dessen, was danach kommt. In der Einführung der dritten Runde dieser Notizbücher heißt es: „{Notizen}verkörpern den ursprünglichen Sinn des αρχειν (archein – führen oder beginnen), des Ersten, und initiieren die Verbindung der Sinne mit den Ideen, dem Selbst und den Anderen. Das Unerwartete, das Unvorhersehbare, das Unberechenbare dieser Welt ereignet sich in einer Notiz. Notizen befinden sich am anderen Ende des Berechenbaren, ohne evident kausale Vorgeschichte, außerhalb von Technik, aber auch außerhalb jedes immanenten oder objektiven Prozesses. – Notizen sind das Einfallen des Neuen.“ 4
Vielleicht auch in diesem Sinne zentrales Motiv der bevorstehenden Weltausstellung wird sein: Collapse and Recovery. Zusammenbruch und Wiederbelebung, Wiedererlangung der Kräfte und des Bewusstseins, vielleicht der Ordnung, der Identität. Knapp an Tod und Auferstehung vorbei formuliert, so könnte es scheinen. Ein österliches Motiv jedenfalls. Und gibt es ein solches, das die empfundene Wirklichkeit zahlloser Menschen, was den Übergang der sogenannten Gegenwart in die nächste Zukunft betrifft, aktueller, moderner und treffender auf den Punkt bringt? Man wird auf seine Umsetzung mit künstlerischen Mitteln gespannt sein dürfen!

Nothart Rohlfs

Anmerkungen

1 Roger M. Buergel im Dezember 2005, www.documenta12.de
2 Einen kleineren Bruder – El Taco – hat das Künstlerpaar 2010 im Frankfurter Portikus ausgestellt, auch dies ein Schritt auf dem Entstehungsweg der bevorstehenden Documenta; vgl. Guillermo Faivovich und Nicolás Goldberg: The Campo del Cielo Meteorites – Band I: El Taco. Ein Künstlerbuch der dOCUMENTA (13), Ostfildern 2010
3 Auf der Webseite von A. Jodokowsky: www.alejandro-jodorowsky.de/heilen/psychomagie.html
4 Auf den Documenta-Seiten: http://d13.documenta.de/de/#de/presse/news-archiv

Sämtliche nicht mit Anmerkung versehenen Daten und Fakten finden sich auf den Documenta-Seiten unter: http://d13.documenta.de

Der Artikel zum Download: Rohlfs-documenta 13 Vorblick