Sozial bewegte Zeit

Die soziale Frage kam im Zuge der Geschehnisse von 1967/68 zunehmend auch auf die Tagesordnung der Schulbewegung. An verschiedenen Stellen war die Beschäftigung mit der Thematik aktuell. So fand zum Beispiel ein Treffen im Studienhaus Rüspe statt, wo verschiedene Persönlichkeiten sich mit dieser Frage beschäftigten. Manfred Schmidt-Brabant, Dr. Manfred Leist sowie die inzwischen verdienten langjährigen Kämpfer für die Dreigliederungsidee Peter Schilinski und Wilfried Heidt waren anwesend, daneben beispielsweise auch Dr. Friederun Karsch. Mir war es wichtig, die verschiedenen Persönlichkeiten wahrzunehmen. Einige Fortsetzungstreffen fanden jeweils im Frühjahr statt. 9783772528033_10001Die anwesenden Persönlichkeiten waren interessant, aber es entstand nicht der Eindruck, dass sich aus den verschiedenen Anschauungen eine Bewegung ergeben würde. Dennoch war es ein königlicher Weg, in den man sich eingegliedert fand. Meine persönliche Hinneigung zu dem Sozialimpuls Rudolf Steiners veranlasste mich, Anfang der siebziger Jahre Wilfried Heidt und Wilfrid Jaensch zu einer Veranstaltung an die Schule zu laden. Heidt wirkte sehr volkstümlich, er baute verschiedene sozialwissenschaftliche Initiativen mit auf. Auch war er Mitbegründer des Internationalen Kulturzentrums in Achberg am Bodensee. Wilfrid Jaensch hingegen, ein blitzgescheiter Kopf, ging nach seiner Zeit in Basel einen ganz eigenen Weg, indem er sich entschloss, nach Australien überzusiedeln und dort als Gärtner und Heilpädagoge zu arbeiten. Nach längeren Jahren tauchte er dann in Berlin auf und begann, am Lehrerseminar mitzuarbeiten. Die Veranstaltung mit den beiden brachte nicht das zur Darstellung, was ich erhofft hatte, so blieb sie die einzige ihrer Art.
In Stuttgart fand im Zuge der Studentenbewegung von 1968 eine Initiative der sozialen Dreigliederung eine Heimstatt, das Forum 3. Siegfried und Elke Woitinas, ursprünglich Regisseur und Schauspielerin, ergriffen gemeinsam mit einigen Mitstreitern die Initiative, die 1969 zur Gründung führte. Heute steht das Jugend- und Kulturzentrum Forum 3 mit einer erstaunlichen Kraft in Stuttgart da. Es hat als selbstständige und freie Initiative, die von der Studentenbewegung hochgespült zu sein schien, nicht nur die erhaltenen Gebäude ausgebaut und erheblich ergänzt, sondern auch mit einem erstaunlichen Leben erfüllt. Es fand sich immer eine zuverlässige und tragfähige Mitarbeiterschaft, so dass die Einrichtung nun über vierzig Jahre besteht! Ein erstaunliches Unternehmen. Im Jahr 1970 wurde ich von Herrn Woitinas um einen Vortrag gebeten, den ich denn auch hielt. Ein junger Mann, der bei uns am Lehrerseminar studierte, ging an die Einrichtung und gestaltete sie tatkräftig mit. Viele Jahre spann sich das Netz zwischen Lehrerseminar und der neuen Einrichtung im Stuttgarter Zentrum. Unsere Tochter Beate gab später Schnitzkurse am Forum 3…

Neue berufliche Perspektiven

Ernst Weißert war eine wunderbare Gestalt. Auf der einen Seite verkörperte er die lebendige Seele der Schulbewegung, auf der anderen Seite war er eine Persönlichkeit, über die man sich auch gehörig ärgern konnte. Kurz gesagt, er ließ niemanden kalt. Als er mich eines Tages fragte – es mag 1970 gewesen sein – ob ich mir vorstellen könne, nach Stuttgart zu kommen, um mit ihm zusammen die künftigen Verhältnisse der Schulbewegung im Rahmen des Bundes der Freien Waldorfschulen zu gestalten, bildete dies für mich eine Schicksalsfrage. Ich bat um vierzehn Tage Bedenkzeit. Diese Zeit glaubte ich zu benötigen, um mir selbst und gemeinsam mit meiner Frau Klarheit über die Konsequenzen eines solchen Schrittes zu verschaffen. Nach einiger Überlegung entschloss ich mich, die angefragte Aufgabe zu übernehmen. So sagte ich nach Ablauf der zwei Wochen zu. Das fiel mir nicht leicht, da ich mich zur Pforzheimer Schule gehörig fühlte und mich aus den dortigen Verpflichtungen nicht ohne weiteres meinte frei machen zu können. Andererseits bildete die Frage von Weißert eine enorme Herausforderung: Schließlich ging es um eine Zukunftsaufgabe, die es so für mich bisher nicht gegeben hatte. Zudem griff der Entschluss Verhältnisse auf, die sich zwischen mir und Ernst Weißert, zwischen mir und den Belangen der Schulbewegung auch jenseits des Bundes seit geraumer Zeit bereits gebildet hatten…

leber_stefan_5226Versammlungen und Vorträge in Ostdeutschland

In Leipzig wurden seit dem 4. September 1989 die so genannten Montagsdemonstrationen durchgeführt. Erhebliche Teile der Bevölkerung versammelten sich regelmäßig an den Montagabenden in geordneten Zügen und zogen, versehen mit Bannern und Schildern, durch die Innenstadt. Anfang Januar 1990 zeigte uns der dortige Pfarrer der Christengemeinschaft das Plakat, welches er zu tragen pflegte und auf dem stand: „Wir wollen eine Freie Waldorfschule haben“. Es war erstaunlich, wie wir von Seiten des Bundes in der Zeit des Übergangs unmittelbar gerufen wurden. Bereits Ende November 1989 fuhren einige von uns nach Berlin und suchten Kontakt mit Frau Heinrich in Berlin-Pankow, der Ehefrau eines dort in der Christengemeinschaft tätigen Pfarrers, die sich um den Erwerb einer neuen Kirche kümmerte. Als wir in der Ostberliner Gemeinde ankamen, war dies das erste gleichsam offizielle Treffen der Christengemeinschaft Ost mit Vertretern der Schulbewegung West. Es war unglaublich, wie schnell die Bürger der DDR reagiert hatten. Vertreter der meisten Großstädte der bisherigen DDR waren anwesend. Gleichzeitig waren wir von Bundesseite gut vertreten: Herr Walter Motte, der Geschäftsführer des Bundes, Herr Hartwig Schiller und ich waren anwesend. Auch die Westberliner Schulen waren durch Herrn Seiberth vom Vorstand der Kreuzberger Waldorfschule sowie Herrn Dr. Wilhelmi, Lehrer ebenfalls in Kreuzberg, in Pankow vertreten. Es ging grundsätzlich darum, was angesichts der neuen Situation getan werden könne. Politisch war die DDR zu diesem Zeitpunkt noch ein souveräner Staat, nur tat die Bevölkerung nicht mehr, was die Regierenden von ihr erwarteten. Das Ganze war eine irritierende und schwer einschätzbare Situation. Wir überlegten, wie ein freies Geistesleben in der veränderten DDR Fuß fassen könne. Welche Schritte waren Anfang des soeben angebrochenen Jahres möglich und erforderlich?
Ich sagte an verschiedenen Orten der DDR Vorträge zu, da ich im Januar noch keine Verpflichtungen am Seminar hatte. Der erste Ort, an dem ich sprechen sollte, war Weimar; von dort war Herr Knabe, ein Mathematiklehrer, an der Zusammenkunft in Berlin beteiligt. Er und seine Frau waren von der Sache, die es aufzubauen galt, vollkommen überzeugt. Frau Knabe engagierte sich beim Aufbau eines Kindergartens, der dann auch zustande kam. Er selbst setzte sich für die Gründung einer Freien Waldorfschule ein, die gleichfalls möglich wurde. In Weimar fand über Jahrzehnte eine solide anthroposophische Arbeit statt, deshalb traf mein Vortrag auf vorbereitete Seelen. Es war eine angeregte Stimmung im vollbesetzten Saal.
Der nächste Ort, an den ich kam, war Leipzig. Es war spürbar, dass die Christengemeinschaft dort über viele Jahre gearbeitet hatte. Mit mir fand sich auch Herr Dr. Jässel ein, der begonnen hatte, seminaristisch in Leipzig tätig zu werden, was sicherlich eine gute Vorbereitung für die Gründung einer Waldorfschule bildete. Die beiden Pfarrer, die damals in Leipzig die priesterliche Arbeit versahen, waren unterschiedlicher Meinung, was den Aufbau einer Waldorfschule betraf. Der Ältere, Herr Müller, vertrat pragmatische Gesichtspunkte, während sein jüngerer Kollege der Meinung war, es gelte jetzt, die Welt völlig neu zu gestalten. In dieser Konstellation ließen sich bereits die Schwierigkeiten ahnen, die künftig untereinander zu klären sein würden. Es war eine aufregende Zeit, die drei Tage in Leipzig.
Mein weiterer Weg führte nach Chemnitz, damals noch Karl-Marx-Stadt. Meine Darstellung traf auf ein interessiertes, aktives Publikum. Das Ganze besaß noch die von der Partei geprägte Atmosphäre, Fragen und Antworten waren ausschließlich und sehr präzise auf die Gründung einer neuen Schule gerichtet. Ein aktiver Kollege, Gotthilf Michael Pütz vom Wittener Seminar, war sehr rege und stieg gemeinsam mit seiner Frau in die beginnende Initiative ein. Ein Lehrer aus Chemnitz wurde im weiteren Fortgang Dezernent für das Schulwesen und unterstützte das Werden einer Freien Schule. Auch die Christengemeinschaft besaß eine starke Kraft am Ort.
Dresden war die nächste Stadt, in der ich zu sprechen hatte. Sie konnte als einzige für sich beanspruchen, über eine eigene ‚Waldorfschulbiografie’ zu verfügen, die sich in zwei Etappen von 1929-41 und von 1945-49 erstreckt hatte. Frau Schneider, die ebenfalls in Berlin mitbeteiligt war, wirkte in Dresden gestaltend mit. Die Veranstaltung im Hygiene-Museum hatte dermaßen starken Zulauf, dass in den Veranstaltungssaal schon bald kaum mehr hinein zu kommen war. Der Vortrag wurde begeistert aufgenommen. In der anschließenden Aussprache setzten sich Dresdener Freunde für die Neubegründung der Waldorfschule ein.
Der Abschluss der Reise führte erneut nach Ostberlin. An der Humboldt-Universität hielt ich einen Vortrag über das freie Schulwesen. Die Veranstaltung fand im Filmsaal der Universität statt und erstreckte sich über Stunden. Auch hier war gespannte Aufmerksamkeit gegenüber den Fragen nach einem künftigen Schulwesen zu spüren. Im Rahmen der Veranstaltung lernte ich Herrn Prof. Albrecht kennen, einen hochrangigen Staatsbeamten der BRD, sowie einen seiner Kollegen. Beide waren außerordentlich interessiert. Im Anschluss an das Gespräch mit den beiden Regierungsvertretern wurde ein Termin im Ministerium vereinbart. Es schien völlig offen, wie die Entwicklung der neuen Situation weitergehen werde…

aus: Stefan Leber: Ein Leben für die Waldorfschule – autobiografische Skizze, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2013, Sozial bewegte Zeit, S. 99 ff.; Neue berufliche Perspektiven, S. 116 ff.; Versammlungen und Vorträge in Ostdeutschland, S. 203 ff.