Joseph Beuys, am 3. Juni 1984 im Interview mit dem japanischen Anthropologen Shinichi
Nakazawa danach gefragt, ob er an Wiedergeburt glaube: „Ich glaube an gar nichts“. Der
Glaube, so Beuys, sei heute kein Erkenntnismittel mehr. Die Frage der Wiedergeburt keine
Frage des Glaubens, sondern eine der Erkenntnis. Was er die sozialanthropologische Methode
nenne, könne Dinge in Erfahrung und zur Erkenntnis bringen, die bisher als
Glaubensangelegenheiten galten. Und: Ohne einen sozialanthropologischen Begriff der
Zusammenhänge zwischen Körper, Seele und Geist werde man auch die Natur nicht retten
und erhalten können.
Solche und viele weitere Worte von Joseph Beuys, vor 27 Jahren in Tokio ausgesprochen,
haben heute einen anderen Klang angesichts dessen, was sich seitdem, u.a. in Japan selbst,
ereignet hat. „Die raffinierteste Technik des Kapitalismus, den Menschen sprachlos und
stumm zu machen, ist der Lebensstandard, die Verlockung des Konsumismus.“
Oder: „Der Kapitalismus produziert neunzig Prozent dessen, was die Menschen nicht nur
nicht brauchen, sondern was ihnen auch noch schadet.“
Aber auch, anders, zentral: „Der Mensch, wenn er denkt, ist so groß wie die ganze Welt.“
Acht Tage Japan, insbesondere Tokio, im Rahmen einer Einladung durch das Seibu-Museum
zu einem Zeitpunkt, zu dem sich der längst unumstritten zu internationalem Ansehen gelangte
Künstler nicht mehr um museale Veranstaltungen kümmert. Doch hier ein Abkommen: von
Seiten des Gastgebers wird eine erhebliche Summe aufgebracht, um die Aktion 7000 Eichen.
Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung in Kassel mitzufinanzieren, und der Urheber der
Aktion erklärt sich zu dem einwöchigen Besuch der japanischen Hauptstadt, einer
umfangreichen Ausstellung, etlichen Interviews und Pressekonferenzen sowie einer zentralen
Aktion bereit.
Das in Vergessenheit geratene Filmmaterial von 30 Stunden, aufgearbeitet und gekürzt, in
bester Qualität der damaligen Zeit, wird bis Ende des Jahres im Hamburger Bahnhof, wenige
Gehminuten vom Berliner Hauptbahnhof entfernt, präsentiert. Um in die Darstellungsräume
zu gelangen, durchquert der Besucher jenen Raum, in dem die Beuyssche Rauminstallation
Das Ende des 20. Jahrhunderts von 1983 mit ihren 44 Basaltblöcken eine dauernde Bleibe
gefunden hat. Was jenseits dieses Raumes zu sehen und zu hören ist, deutet auf Zukünftiges,
überschreitet das Ende jenes Jahrhunderts, ja es besteht seinem Grundcharakter nach in
Zukunftsentwürfen und weitgreifenden Perspektiven. Utopie Eurasia eben.
Acht Tage Japan, zum ersten und einzigen Mal, zwei Jahre vor dem Tod des Meisters. Joseph
Beuys redet Klartext, wie es in diesem Umfang und dieser thematischen Breite wohl kaum
anderswo der Fall war. Er spricht mit einer Offenheit, Klarheit und Eindeutigkeit über den
von japanischer Seite betriebenen Walfang, die künstlerische Beschränktheit staatlicher
Kunstakademien, über Rudolf Steiner und die Anthroposophie, das Denken als eine
übersinnliche Kategorie, das Versagen des Kapitalismus und viele weitere Themen unter
Gesichtspunkten eines erweiterten Kunstbegriffs. Seine Ausführungen, oft veranlasst von
Eingangs-Statements und Fragen der japanischen Gesprächspartner, haben
Vermächtnischarakter.
Wo aber auch in Europa wäre er mit einem Eingangszitat des Schriftstellers Michael Ende
begrüßt worden, in dem sich dieser dezidiert über die Anthroposophische Gesellschaft und
deren Wirksamkeit äußert? In Japan ist dies möglich (Pressekonferenz vom 4. Juni). Man
kennt sich aus. Sieht die Dinge aus der Ferne. Das Interesse scheint groß.
Beuys greift die Vorlage auf und spricht während der gesamten Pressekonferenz über seine
Sicht der Anthroposophischen Gesellschaft, die „manches verhindert, was eigentlich
notwendig wäre“, über Waldorfschulen, Heilmittelherstellung, biologisch-dynamische
Landwirtschaft und über das Sozialkonzept Steiners, die soziale Dreigliederung, als das
„eigentliche therapeutische Modell“ gesellschaftlicher Erneuerung. Träte dieses mehr ins
Bewusstsein, so seine Überzeugung, so könnten die anderen, rudimentär gebliebenen Ideen
Steiners auf viel größeres Interesse stoßen.
Der Ablauf dieser Tage in Japan zeugt von Dichte, menschlicher und inhaltlicher Intensität.
Mit Beuys’ Ankunft auf dem Tokioter Flughafen beginnen die Filmaufnahmen. Der Künstler
legt – während Menschen zur Begrüßung auf ihn zukommen – mehrfach den Finger auf den
Mund, als wolle er darum bitten zu schweigen – oder auch zu verstehen geben, daß er selbst
zunächst schweige. Eine sprechende Geste, dieses Schweigen. Sie weckt Erinnerungen: Zehn
Jahre zuvor im Gebäude des John F. Kennedy-Airports, zu Beginn der Aktion Coyote. I like
America and America likes Me, verschattet Beuys seine Augen mit der Hand, tappt blind vor
sich hin, bis er empfangen und geleitet wird. Nun, 1984, ergänzt er die damals so
aufsehenerregend im Fernen Westen begonnene Aktion mit Coyote III, seiner einzigen Aktion
im Fernen Osten.
Auf der Pressekonferenz am Tag seiner Ankunft (29. Mai): „Ich spreche vom Geist“, und ich
tue dies nicht im Sinne einer Ideologie, nicht im Namen einer Partei oder im Interesse einer
„Beschönigungsphilosophie“. Der Geist sei das eigentliche Kapital des Menschen, was wir
Kultur nennen, bloßer rudimentärer Rest davon. Die menschliche Kreativität entstammt
diesem Kapital. Der Mensch müsse als Kreator, als göttliches Wesen, in den Mittelpunkt
gestellt werden. Kreativitätswissenschaft, Freiheitswissenschaft sei die zeitgenössische
Wissenschaft vom Menschen.
Die Frage eines jungen Japaners während der Diskussion an der Tokioter Universität der
Künste: Warum gibt es in Japan nicht eine Bewegung für eine Umwandlung der schlechten
sozialen Skulptur in eine gute? Beuys’ Antwort: Weil das Gespräch über die Frage eines
tieferen Menschentums verstummt ist.
Am 2. Juni dann der Höhepunkt: die Aktion Coyote III, gemeinsam mit dem koreanischen
Freund, Musiker und bildenden Künstler Nam June Paik. Das Ganze auch Gruß und Brücke
hinüber nach Amerika (Coyote. I like America and America likes Me).
Zwei Flügel stehen auf der Bühne einander gegenüber, der eine schwarz, der andere
orangerot. Nach einer Aufwärmphase nimmt Nam June Paik vor dem schwarzen Platz, Beuys
stellt sich neben den orangen, hinter ihm eine Tafel, die er im Laufe der Aktion mit
metrischen Zeichen (· · – · · – · · – u.ä.), mehreren kleinen ö sowie dem Wort Coyote
beschreibt.
Das Mikrofon nah vor dem Mund, eine Hand wie zur Unterstützung in leichter Neigung nach
oben ausgestreckt darunter haltend – als wolle er eine Richtung andeuten, vielleicht eine
Schnauze – beginnt Beuys, kurze ö-ö-ö-Laute auszustoßen, entsprechend den metrischen
Zeichen an der Tafel: kurz kurz lang; lang kurz kurz; kurz lang, kurz lang… Gelegentlich
weist er auf diese Zeichen hin. Zwischendurch, kaum verständlich, einige wenige Worte.
Während er die ö-Laute in verschiedenen Intonationen und Rhythmen, mal krächzend gequält,
mal fordernd und angriffig, dann wieder beinahe erwartungsvoll und sehnsuchtsvoll
hervorbringt, beginnt sein Begleiter am Flügel zu improvisieren. Bestandteile klassischer
Kompositionen, japanisch-koreanische Weisen, im Augenblick entstehende Cluster und
Klangfolgen wechseln einander ab. Kaum hörbar, wie lauschend von Ferne, plötzlich
hervorbrechend, sich Gehör verschaffend, dann wieder wie im Gespräch mit den
Geräuschketten seines Gegenübers. Eine Weile geht das so, dann bricht Beuys abrupt ab, um
mit starker seelischer Beteiligung auszusprechen: „Erfüllung geht, durch Hoffnung, geht
durch Sehnen, durch Wollen, Wollen weht im Webenden, weht im Bebenden… (und
schließlich, betont:) Kündend“!¹
Nachdem er so eine von der vorherigen gänzlich verschiedene Stimmung aufgebaut hat, bringt der Künstler plötzlich eine geradezu infernalische Geräuschtirade hervor, die seltsamen menschlichen Worte und ihre
ungewöhnliche Atmosphäre unter Hohngelächter begrabend. Kurz darauf beginnt dieser
Zyklus erneut, in leichter Abwandlung, jedoch verwandt in seiner Folge. Immer wieder
schießen dabei aus Gestik und Mimik von Beuys der Blick und die raschen abrupten
Bewegungen des Kojoten hervor. Parallel dazu, begleitend, untermalend, wie befragend oder
antwortend auch die Melodien, Klänge und gelegentlichen Materialgeräusche vom
gegenüberstehenden Flügel.
Anschließend Erläuterungen, Gespräch mit dem Publikum.
Es entstehen Assoziationen, Anmutungen: Die Menschwerdung des Tieres. Die Vertierung des Menschen. Ein Hin und Her zwischen Tierischem und Menschlichem durch das einander begleitende Gegenüber und Miteinander der (Beuysschen) tierhaften und der menschlich-musikalischen Laute seines Begleiters Nam June Paik. Im Interview (3. Juni) einen Tag nach der Aktion äußert er sinngemäß, zum Teil wörtlich: Anhand einer solchen Aktion möchte ich darauf hinweisen, anhand eines solchen Tieres, daß es etwas oberhalb des Menschen gibt. Normalerweise wird im Westen davon ausgegangen, daß das Tierreich niederer steht als der Mensch. Auf solche Dinge, Ätherleib der Pflanzen, Astralleib, Ich möchte ich hinweisen. Auf all das wird ja an Schulen und Hochschulen, die staatliche Institutionen sind, nicht hingewiesen.

Vor seinem Abflug am 5. Juni besucht Beuys abschließend den Botanischen Garten der Stadt Tokio. Er sammelt dort Blüten und Blätter, die er sorgfältig zwischen die Blätter eines Buches legt – man könnte meinen, er tue dies als ein Zen-Meister – als wolle er sich etwas von diesem Land, diesem Kontinent gleichsam „anverleiben“ und damit einen Anknüpfungspunkt für zukünftige Begegnungen schaffen.

Nothart Rohlfs

Anmerkung

¹Von Rudolf Steiner gegebene Sprachübung zur Schulung des Atems, in: Rudolf Steiner, Marie Steiner-von Sievers: Methodik und Wesen der Sprachgestaltung
(1919-22; GA 280), Dornach 1983, S. 16ff.

Joseph Beuys. 8 Tage in Japan und die Utopie Eurasia, bis 1. Januar 2012 im Hamburger Bahnhof, Berlin (www.hamburgerbahnhof.de).

Der Artikel zum Download: Rohlfs-Utopie Eurasia