Das Leihgeld (Kredit) besitzt den geheimnisvollen Charakter, daß es eine Kluft überbrückt, eine Brücke bildet zwischen Entwicklung im geistig-kulturellen Leben und deren stofflicher Verwirklichung im wirtschaftlichen Leben. Die Templer haben in dieser Hinsicht vorbereitende Arbeit geleistet. Sie kannten und entwickelten das Kreditwesen, das Leihgeld. Dieses befand sich bei ihnen noch stark in der Sphäre des politischen Lebens einerseits und in der des Kaufgeldes andererseits. Es war erst ansatzweise mit dem Wirtschaftsleben verbunden. Man konnte das Geld bei einem der Ordens- oder Handelshäuser hinterlegen und es an einem anderen Ort wieder aufnehmen. Diese Möglichkeit bildete zugleich die Lösung eines Sicherheitsproblems: Man brauchte nun nicht mehr mit Geld unterwegs zu sein, das infolgedessen auch nicht mehr geraubt werden konnte. Das Geld wurde bei den Templern zurückgelassen und aufgrund eines Girosystems anderswo abgeholt. Es handelte sich dabei um eine Art Kreditwesen, das noch stark der Sphäre des Kaufgeldes verhaftet war. Das Spargeld allerdings, das dadurch entstand, wurde unter anderem an Fürsten verliehen, die es für ihre politischen Unternehmungen benötigten, — in den meisten Fällen wahrscheinlich, um ihre Soldaten zu besolden.
Das Leihgeld als Brücke zwischen Geist und Stoff, zwischen »ora« und »labora«, kommt eigentlich erst richtig zur Entwicklung mit dem Beginn der industriellen Revolution, als Kapital für Investitionen erforderlich wird. Es ist begreiflich, daß es von allergrößter Bedeutung ist, mit welcher Moralität sich dieses Leihgeld verbindet. Wir müssen unser Bewußtsein soweit entwickeln, daß wir durchschauen, welchem Geist wir mit Hilfe des Leihgeldes Zugang zur Stofflichkeit geben.
Die Templer gingen mit dem Gold auf eine außerordentlich selbstlose Weise um. Sie vermochten dies, da im Mittelpunkt ihres esoterischen Lebens Meditationen standen, die christliche, selbstlose Kräfte hervorriefen. »Non nobis, Domine, non nobis, sed tuo nomini da gloriam – nicht uns, o Herr, nicht uns, sondern Deinem Namen sei die Ehre« war ihr Leitspruch. Hierbei erweckte jeder Templer in sich die Empfindung, daß das Blut, das in seinen Adern strömte, nicht ihm, sondern Christus angehörte.
Wir müssen in der Gegenwart unser Bewußtsein schulen, um zu begreifen, welchem Geist wir — indem wir zum Beispiel sparen — helfen, sich auf der Erde zu verwirklichen, welche Ideen sich durch Leihgeld inkarnieren. Gegenwärtig erhält man den Eindruck, daß sich allerlei »UnGeist« inkarniert und sich über die Erde hin ausbreitet durch ein erkranktes Kreditwesen. Wir müssen das Kreditwesen, wie es in unserer Zeit lebt, reinigen und heilen.
Als zweite Brücke zwischen »ora« und »labora« wurde bereits der Urteilsbildungsprozeß im Arbeitsgespräch erwähnt: das Gespräch, das überall dort stattfindet, wo Menschen aus Gedanken, Ideen, Zielvorstellungen u. ä. heraus tätig sind. Es kann sich dabei um einen Kreis von Menschen an einer Schule handeln oder auch
um eine Gruppe von Ärzten und Therapeuten in einem Gesundheitszentrum. Auch in einer Gruppe von Unternehmern, einem Kreis von Abteilungsleitern an einer Arbeitsstelle oder unter den Beschäftigten in einer sozialen Einrichtung kann ein solches Gespräch stattfinden. Überall dort, wo Menschen aus dem Geist, aus Ideen, auf der Erde arbeiten wollen, wird das Arbeitsgespräch notwendig sein: ein Gespräch, in dem man zum einen individuell erfaßte Ideen zusammenträgt zu einem gemeinschaftlichen Ideal oder Ziel und zum andern jene Gesichtspunkte zu einem gemeinsamen Bild gestaltet, unter denen jeder einzelne, bedingt durch
seinen Standort im Leben, die Wirklichkeit sieht. So läßt sich der richtige Weg finden, um Ideen zu verwirklichen und aus den Arbeitserfahrungen zu lernen.
Im Arbeitsgespräch sprechen die Beteiligten über die Art und Weise, wie sie in der irdischen Wirklichkeit mit ihren Ideen umgehen wollen. Zugleich betrachten sie in ihm die Ergebnisse ihres Handelns und vergegenwärtigen sich so, was sie zustande gebracht haben. An ihnen versuchen sie abzulesen, welches der
folgende Schritt ihres Handelns sein muß. Auch durch die Urteilsbildung im Arbeitsgespräch entsteht eine Mitte zwischen »ora« und »labora«. Es erfordert ein intensives Üben, eine Schulung im Sprechen und Zuhören und in sozialen Fähigkeiten. Darin aber bildet sich die Substanz, die die Pole verbinden kann. Auch die Vermittlung von Krediten kann zum Mittelpunkt von Arbeitsgesprächen werden. Menschen mit der Möglichkeit, Geld zu verleihen, und andere mit Bedarf an Kredit kommen miteinander ins Gespräch über die Frage, wie sich die Kreditbrücke schlagen läßt. Wenn Kreditwesen und Urteilsbildung im Arbeitsgespräch so als die Brücke zwischen »ora« und »labora« dargestellt werden, wer denkt dann nicht an das Märchen von Goethe’° und das darin enthaltene Gespräch der grünen Schlange mit dem goldenen König:
»Kaum hatte die Schlange dieses ehrwürdige Bildnis erblickt, als der König zu reden anfing und fragte: >Wo kommst du her?< — >Aus den Klüftenin denen das Gold wohnt.< — >Was ist herrlicher als Gold?< fragte der König. >Das LichtWas ist erquicklicher als
Licht?< fragte jener. >Das Gespräch Was hatten die Templer sich zur Aufgabe gestellt? Sie arbeiteten an der Durchchristung Europas. Das bedeutete im Grunde, daß sie den Boden für die Neugestaltung des Wirtschaftslebens im christlichen Sinne schaffen mußten. Denn wenn der Christusgeist in unserem Umgang mit der Erde nicht Wirklichkeit werden kann, dann bleibt er unwirksam. — Diese Aufgabe bedeutete letztlich eine fundamentale Neuordnung des sozialen Lebens. Durch die Wirksamkeit der Templer entwickelte sich dieses aus seinem feudalen Zustand zu einer Symbiose städtischer und ländlicher Kultur; aus der Einseitigkeit der Agrarwirtschaft zu einer agrar-handwerklichen Polarität, mit einer später hinzukommenden Industrie; es entwickelte sich von einer Tauschwirtschaft zu einer Geld- und Kreditwirtschaft.
So findet damit vor allem eine Umwandlung von einer vertikalen zu einer horizontalen Gesellschaftsform statt, – von einer Gesellschaft, die noch ganz und gar hierarchisch strukturiert ist, in der alle geistigen und verwaltungsmäßigen Fäden in einem Mittelpunkt zusammenlaufen, hin zueiner Gesellschaft, die sich durch ein gleichsam horizontal verlaufendes Netz von Vorgängen zwischen einer Vielfalt von Organen auszeichnet, die auf unterschiedlichste Arten voneinander abhängig sind.
Betrachtet man die Geschehnisse des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts innerhalb eines größeren Entwicklungsrahmens, so kann man sich vergegenwärtigen, daß es sich bei ihnen um Ereignisse einer Übergangsperiode zwischen zwei grundsätzlich polaren sozialen Gestaltungen handelt. Im Rahmen der ersten ist das Geistesleben allumfassend (gr. katholos) und das Wirtschaftsleben aufgesplittert in eine schier endlose Anzahl sich selbst versorgender Einheiten. Im Rahmen der zweiten wird das Geistesleben zunehmend auf die Kräfte der Einzelpersönlichkeit, einer unendlichen Anzahl von Individuen gestellt, während das
wirtschaftliche Leben immer mehr den Charakter einer Weltwirtschaft annimmt, einer alles durchziehenden und erdumspannenden gegenseitigen Abhängigkeit.
Wie sehr die Templer ihren spirituellen Impuls in der Durchchristung des wirtschaftlichen Lebens sahen, zeigt sich auch noch in der Zeit nach ihrer Vernichtung. In Portugal taucht der Orden erneut als Christusorden“ auf. Es ist dieser Christusorden, der in Sagres, dem südlichsten Ort des Landes zwischen
dem Atlantischen Ozean und dem Mittelmeer, ein Zentrum errichtet. Äußerlich handelt es sich dabei um eine Seefahrtsschule, innerlich um ein esoterisches Zentrum. Heinrich der Seefahrer, Großmeister des Christusordens, ist dessen geistiger Führer. Am Vorabend der Entdeckungsreisen richtet er eine Schuleein, in der denjenigen, die sich dazu aufmachen, in Übersee andere Völker und Rassen zu entdecken, inbegriffen die unvorstellbaren Reichtümer, die dort in der Erde ruhen, das allergrößte Interesse an den Menschen und Moralität gegenüber der Erde gelehrt wird. Der okkulte Ausdruck dafür war: Wir gehen auf die Suche nach
dem verborgenen Reich des Priesterkönigs Johannes. — In diesem Geist wollte man den Entdeckungen gegenübertreten. Es kam anders. Die neue Weltwirtschaft wurde nicht in jenem Geist verwirklicht. Größtes Desinteresse an anderen Völkern und Rassen und die größte Begierde nach deren Reichtum wurden tonangebend.
Wenn gegenwärtig über den Nord-Süddialog als Grundlage einer christlichen Weltwirtschaftsordnung gesprochen wird, dann finden wir dafür im Impuls des Tempel- und Christusordens von Heinrich dem Seefahrer in Sagres einen Anknüpfungspunkt. Für die Umstülpung innerhalb der Gesellschaft von einer vertikalen zu einer horizontalen Orientierung haben die Templer den Boden vorbereitet. Sie beginnen, sich von der kirchlichen Hierarchie unabhängig zu machen. Allein dem Papst sind sie Verantwortung schuldig. Während der Zeit ihrer Wirksamkeit schaffen sie Verbindungen zwischen einer großen Zahl an Ordenshäusern, Arbeitsstätten, Vorratszentren, Ausbildungseinrichtungen für handwerkliche Tätigkeiten, Herbergen und Krankenhäusern. Man muß sich dies als ein weit verzweigtes Netz von Beziehungen zwischen den verschiedensten Orten des Gebets, des Lebens und der Arbeit vorstellen. Sie alle waren natürlich stark ausgerichtet auf den Bau von Kathedralen und die entsprechenden Dienste, sie bildeten jedoch, was ihre Sozialstruktur betrifft, ein ineinanderwirkendes Gewebe unterschiedlichster Einrichtungen.

aus: Lex Bos, Die Templer, Verlag Urachhaus Johannes M. Mayer GmbH, Stuttgart 1982, aus dem Niederländischen: N.Rohlfs, Seite 20 ff.