…Halbeisen blickt über die Köpfe der Festgesellschaft hinweg und begegnet dort oben, im dunklen Raum über den roten Lampionkugeln, dem fühlbaren Blick von Attila Haug, der mit schelmischem Ergötzen auf ihm ruht. Die letzte Strophe singt Hieronymus ganz ohne Instrumentalbegleitung. Eine unbestimmte Innigkeit – oder ist es eher verlegene Peinlichkeit? – regt sich in den Versammelten. „Malautz suy e tremi murir“ („Krank bin ich und zittre beim Gedanken an den Tod“). Die sorgenvolle Ruhe, in der das Lied verklingt, mag ein jeder wiederum auf die eigene Art empfunden haben.
In der folgenden Pause wird das benutzte Geschirr von den Tischen geräumt. Stattdessen werden Thermoskannen mit Kaffee aufgetragen und die Gäste werden dazu ermuntert, sich am Tisch mit den Nachspeisen zu bedienen. – Erich von Gunten hat sich neben mich gesetzt und blickt Haug freudig ins Gesicht. – «Na Erich, leg schon los!», meint Attila Haug zu ihm. – «Ich habe mir die letzten Tage sämtliche Videos angesehen, die Herr Savoldelli von eurer Reise gemacht hat. Ich bin wirklich froh darüber, unsere Drehorte nicht nur durch die Produktionskalkulationen, sondern schon jetzt in dieser Art kennengelernt zu haben. Bald werde ich ja selbst hinfahren. In drei Wochen ist bereits der Termin im Institut d’Estudis Occitans in Toulouse. Weißt du, wegen der finanziellen Beteiligung, wenn wir die Szenen auf Okzitanisch machen. Gut. Was ich sagen will, Attila, deine Kommentare im Film zu diesem und jenem, was euch so über den Weg gelaufen ist, waren für mich absolut spannend. Ich war wieder einmal perplex darüber, wie gut du dich darin auskennst. Na gut, eine Einstellung, sie dauert etwa zehn Sekunden, war für mich eine Offenbarung, was diesen Punkt betrifft. Du weißt, dass ich mich schon lange frage, wie du in deinem letzten Leben gelebt hast, Attila. Und jene zehn Sekunden haben mich auf die Spur gebracht. Ich weiß nicht, ob ich vor Herrn Savoldelli darüber sprechen soll.» – «Du musst das, was du zu sagen hast, schon selbst verantworten. Also sprich ruhig weiter, wenn du willst.» – Nach einer Weile fährt von Gunten fort: «Also, ihr zwei wandert gemächlich auf das Schloss in Arques zu, über eine sanft ansteigende, frisch gemähte Wiese. Im Übrigen eine herrliche Fläche, um unsere kostspielige Reitertruppe aus Carcassonne auf das Schloss zu und wieder weg galoppieren zu lassen, wenn Isabelle das so will. – Auf dieser Wiese drehst du dich zu Herrn Savoldelli um, schaust einen Augenblick an der Kamera vorbei in Richtung der hohen Berge und sprichst dann direkt in die Kamera: „In dieser Richtung hier werden wir Wolfram von Eschenbach im Film weg reiten sehen, auf seinem Weg nach San Juan de la Peña“. – Du begleitest deine Aussage mit einer Geste, die genau anweist, zwischen welchen Kuppen Eschenbach sich entfernen wird. Aus der Art, wie du sprichst, ging mir unmittelbar auf, dass du dich selbst als Meister Wolfram verstehst! Es kann gar nicht anders sein, ich habe dein Interesse für Halbeisen und seinen Komaschlaf hautnah verfolgt! Hieronymus war nicht irgendeiner deiner vielen Patienten! Stimmt’s oder hab ich recht?»
«So, Wolfram von Eschenbach, denkst du? Das ist eine interessante Theorie.» «Willst du es leugnen, Attila, dann tu es klar und deutlich. Mir ist die Sache zu wichtig, um über deine Auffassung dazu ins Rätselraten verfallen zu müssen. Und es gibt nur drei Antworten, die ich akzeptiere: Ja, nein und: ich weiß es nicht. Also keine Ausflüchte! Verfügst du über Erkenntnisse eines Lebens als Wolfram von Eschenbach?» «Na gut, wenn du meinst, dass ich Eschenbach war, so beweise mir das.»
«Ich kann das doch nicht beweisen, warum wohl frage ich Dich? Ich bin zu keiner Erforschung vergangener Leben meiner Mitmenschen fähig bin. Das weißt du. Also was soll deine Aufforderung!? Ich habe lediglich deine eigene Überzeugung wahrgenommen. Doch du hast es dir selbst bewiesen, Attila! Ich habe lediglich deinen Glauben an deinen eigenen Beweis wahrgenommen. Als du den erwähnten Satz auf der Burgwiese sagtest, geschah dies in der Gewissheit, dass du als Wolfram von Eschenbach gelebt hast. Und dass du damit die visionären Bilder von Hieronymus, wenn ich sie so nennen darf, bestätigst. Also sag mir nicht, dass ich irgendetwas beweisen müsse, sondern sage mir, ob ich richtig wahrgenommen habe.» Nach einer Pause, die sich in die Länge zieht, antwortet Haug seinem Freund: «Du hast richtig wahrgenommen, Erich. – Hast du darüber etwa mit Frau Montclaire oder mit Hieronymus gesprochen?» – «Aber nein, wo denkst du hin, das würde ich doch niemals tun! Traust du mir so etwas wirklich zu?» – «Nein, ich hielt das auch für undenkbar. Doch habe ich aus einem bestimmten Grund dennoch danach gefragt. Das erste nämlich, wonach mich Madame Montclaire vorhin bei unserer Begrüßung gefragt hat, war, ob ich mich in der Klinik in ungefähr einem Monat für einige Tage entbehrlich machen könne. Sie habe eine Rolle für mich. Ich möge mir überlegen, ob ich nicht an den Originalschauplätzen den Meister Wolfram verkörpern wolle! Sie hat „incarner“ gesagt, nicht „jouer“.»
«Wenn ich dazu etwas sagen darf», schaltete ich mich ein, «Isabelle verfügt wirklich über ein traumwandlerisches Gespür, wer für eine Rolle geeignet ist. Wenn sie meint, dass Sie, Herr Haug, den Eschenbach spielen könnten, so ist das ihr sicherer Instinkt für die Besetzung, der sie zu ihrer Anfrage veranlasst hat. Kein Einblick in frühere Leben, nein, das glaube ich nicht. Oft sind es Künstler, die goldene Körner finden, auch ohne zu wissen, um was es sich handelt.» – «Ich verstehe. Wenn ihr mich nun mal für zwanzig Minuten entschuldigen würdet.» – Doktor Haug verlässt den Tisch und begibt sich auf direktem Wege in das Innere der Burg.

aus: Reto Andrea Savoldelli, Hieronymus. Über Kino und Liebe in Zeiten der Reinkarnation, Selbstverlag, Basel 2010, S. 481 ff.