Es beginnt damit, daß Steiner zufolge der Mensch, sofern er als physisches Wesen mit gewissen seelischen und geistigen Eigenschaften betrachtet wird, nicht angemessen erfasst wird. Seinem ganzen Wesen nach bilde vielmehr der Mensch, folgt man R. Steiner, ein viel komplexeres und vielschichtigeres System, als dies aus Sicht der heute maßgeblichen Wissenschaften der Fall ist.
Steiner spricht zunächst von drei verschiedenen «Leibern» oder «Wesensgliedern» des Menschen. Deren erstes ist der uns hinlänglich bekannte physische Leib. Dieser unterliegt physikalischen und chemischen Gesetzmäßigkeiten. Ein weiterer Leib, der «Lebens-» oder «Ätherleib» ist nicht physischer Natur. Er durchdringt als energetischer oder Kraftleib den physischen Körper und folgt Gesetzen, die man an allem Lebendigem (Pflanze, Tier und Mensch) beobachten kann. Er unterliegt zyklischen Vegetationsvorgängen, die in vergleichbarer Weise auftreten wie die Wachstumsphasen der Pflanze in Keimung, Blatt-, Blüten- sowie Fruchtbildung, Reifung, Verwelken und Absterben. Er durchsetzt den physischen Leib mit Vorgängen der Lebensdynamik, wodurch diesem Prozesse des Werdens und Vergehens, die Fähigkeit zur Fortpflanzung sowie Anlagen zu Krankheit und Gesundheit eingeprägt werden.
Der Lebensleib mit seiner andersartigen Wirkungsweise vermittelt dem mineralisch-physischen Leib das Leben. Sich selbst überlassen, müsste dieser zerfallen, was er nach dem Tod des Menschen auch tut. Zu diesem Zeitpunkt verlässt der Lebensleib den physischen Leib.
Ein dritter Leib, der zu den beiden genannten in einem eigenen Verhältnis steht, ist der von Steiner so bezeichnete «Astral-» oder «Seelenleib». Was wir als unsere seelischen Regungen und Eigenschaften betrachten, sind Steiner zufolge Äußerungen des Seelenleibes. Er gilt als Träger des Bewusstseins sowie sämtlicher Empfindungen, Gefühle, Leidenschaften, Triebe und Willensimpulse. Ohne ihn hätten wir als Menschen kein Bewusstsein, könnten weder Freude, Angst, Lust oder Ärger erleben, wir empfänden weder Hunger, Durst noch geschlechtliche Anziehung. Art und Beschaffenheit dieses Leibes legen den Grund für das Seelenleben des Menschen. Wie wir den physischen Leib mit Mineralien, Pflanzen und Tieren gemeinsam haben, den Lebensleib mit Pflanzen und Tieren, so den Seelenleib mit den Tieren. Diese drei bilden die dreifach gegliederte leibliche Natur des Menschen.
Sie gehorchen, so Steiner, nicht nur spezifischen Gesetzmäßigkeiten, deren Wirkungsweisen den Gesamtmenschen in mannigfaltigen Verhältnissen durchdringen, sie erlangen auch beim Heranwachsen des Menschen zu verschiedenen Zeitpunkten ihre Selbständigkeit und unterliegen alle drei – nicht nur der physische Leib – einer Art von Geburtsvorgängen. Steiner spricht davon, daß der Lebensleib des Kindes um die Zeit des Zahnwechsels seine Selbständigkeit erlange. Zuvor sei er im Wesentlichen vereinigt mit dem mütterlichen Ätherleib. Die Selbständigkeit des Seelenleibes trete mit der Geschlechtsreife ein, zuvor sei der kindliche Seelenleib in den mütterlichen Astralleib eingebunden.
Derartige sich ändernde leibliche Verhältnisse einmal angenommen, hat das Genannte auch praktische Konsequenzen, was zum Beispiel die Erziehung des Kindes betrifft. Grundlegende menschenkundliche Annahmen wie die angeführten lassen vielleicht ahnen, daß auf ihrem Boden eine eigenständige Pädagogik, Ernährungskunde und Medizin haben entstehen können.

Angesichts des Geschilderten mag die Behauptung verständlich werden, es handle sich beim Untersuchungsobjekt der heutigen Universitätswissenschaften und Steiners Anthroposophie im Hinblick auf den Menschen um verschiedene Gegenstände. Es geht dabei um das zentrale Verständnis von Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Während im einen Fall chemische Beschaffenheit, anatomische Struktur und physikalische Funktionsweise des menschlichen Körpers sowie psychische Eigenarten und Verhaltensweisen das Forschungsobjekt bilden, wird im anderen Fall auf drei verschiedenartige «Leiber» verwiesen, deren Beschaffenheit und Funktionen zu erforschen sind, um den Menschen in leiblicher Hinsicht zu verstehen.
Es lässt sich ausmalen, daß die Betrachtungsweise nicht einfacher wird, sobald «Seele», «Geist», «Selbst» oder «Ich» des Menschen ins Blickfeld rücken.
So ist die «Seele», deren leibliche Unterlage der Seelenleib bildet, Rudolf Steiner zufolge ebenfalls in dreifacher Weise differenziert. Die von ihm so genannten «drei Seelenglieder» sind Träger unterschiedlicher seelischer Funktionen: die «Empfindungsseele» umfasst all jene Abläufe, wo wir als Menschen auf Empfindungseindrücke wie Lust und Unlust, Freude und Schmerz, Wut und Trauer unmittelbar reagieren. Wir befriedigen die Lust, vermeiden die Unlust, äußern unsere Wut und fliehen den Schmerz.
Die «Verstandesseele» ist anderer Art. Bei ihr handelt es sich um Vorgänge, wo an die auftretenden Empfindungseindrücke zum Teil weitreichende gedankliche und Vorstellungsprozesse angeknüpft werden. Diese beziehen sich zwar auf die Empfindungen und stellen sich in den Dienst ihrer Befriedigung, entfalten jedoch ein Eigenleben, das in sich selbst besteht. Auf dem Boden seelischer Eindrücke, an die sich Vorstellungen in diesem Sinne anschließen, werden Erfindungen und Entdeckungen gemacht, verschiedenste Lebensverhältnisse werden organisiert und im Sinne effektiver Bedürfnisbefriedigung zielführend eingerichtet. Die Logik zieht ein, Orientierung an «der Sache» wird maßgeblich. Damit entsteht eine Bewusstseinshaltung, die sich denkend der Welt zuwendet, dieses Denken jedoch mittelbar in den Dienst der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse stellt.
Die «Bewusstseinsseele» als das höchstentwickelte Glied der Seele, wie Steiner diese schildert, ermöglicht dem Menschen die Unabhängigkeit von der Bindung an die eigene Bedürfnisbefriedigung. Sie enthält das Vermögen zur Uneigennützigkeit, zur Selbstreflektion, sie stellt Ziele in den Mittelpunkt, die nicht dem eigenen Nutzen dienen, sondern als übergeordnete Wahrheiten und Ideale erkannt und verfolgt werden. Die Kraft der Bewusstseinsseele führt die Seele über sich selbst hinaus und steckt ihr Ziele, die allgemeiner, übergeordneter Art sind. In Steiners Ausdruck: die Bewusstseinsseele macht den Menschen empfänglich für Geistiges, das jenseits von leibgebundenem Selbstbezug als Ideal oder Wahrheit in ihn einstrahlen kann. Das eigene Selbst, dessen unmittelbare Empfindungen und Bedürfnisse erfahren durch sie eine Relativierung, die den Boden bildet für ein Denken und Handeln, das den Selbstbezug zu überwinden und sich in ein größeres Ganzes einzugliedern vermag.
Das geistige Glied des Menschen, folgen wir Steiner, bildet sein Ich. Dieses ist eng verbunden mit der Bewußtseinsseele. Durch deren Fähigkeit, sich Geistigem zuzuwenden, lebt das Ich in geistigen Bezügen. Das Geistige selbst realisiert sich im Menschen in drei Stufen, dem «Geistselbst», «Lebensgeist» und «Geistesmenschen».
«Der Mensch» aus Sicht Rudolf Steiners und in dessen Verständnis Gegenstand anthroposophischer menschenkundlicher Forschung stellt sich als ein dreifach strukturiertes Gesamtsystem dar mit leiblichen, seelischen und geistigen Anteilen. Diese drei Untersysteme in ihrer jeweiligen Wirkung und Durchdringung, integriert und zueinander ins Verhältnis gesetzt durch die eigentliche Individualität, das «höhere Selbst», bilden gemeinsam den Menschen. Leib, Seele und Geist sind in sich wiederum dreifach untergliedert. Unterschiedliche Funktionen und «Gesetzmäßigkeiten» sind maßgeblich für diese Gliederung.
Zuguterletzt: Steiner versteht sein gegliedertes Menschenbild nicht als ein System differenzierter Hypothesen über den Menschen. Er betrachtet und beschreibt es vielmehr als das Resultat geistiger Forschung, welche insbesondere die nicht-physischen Anteile des Menschen mit adäquaten Methoden zu erkennen in der Lage sei. Der Mensch: eine dreifache Leiblichkeit (physischer Leib, Lebensleib, Seelenleib), verkörpert durch den physischen Leib. Ebenso dreifach gegliederte Systeme des Seelischen (Empfindungsseele, Verstandes- und Gemütsseele, Bewusstseinsseele) und des Geistigen (Geistselbst, Lebensgeist, Geistesmensch), miteinander verbunden im Ich: dies alles «geisteswissenschaftliches Forschungsergebnis».

Wie sich der «Forschungsgegenstand Mensch» aus den verschiedenen Blickwinkeln deutlich unterscheidet, so auch dessen Entstehung und Entwicklung im Laufe der Evolution der Erde.
Die Entwicklung des «Menschen zum Menschen» wird im einen Fall als die Entwicklung des Einzellers zum niederen Tier, des niederen Tiers zum Säugetier, und schließlich des Menschenaffen zum Menschen gedacht. Grundlage für die entsprechende Sichtweise bilden Darwins Annahmen von Selektion und Variation, Mechanismen einer «natürlichen Auslese» bzw. einer kontinuierlichen Auswahl der am besten angepassten Lebensformen. Eine in letzter Hinsicht zufällige Entwicklung führt zu dem Ergebnis Mensch.
Steiner betrachtet die Evolution des Menschen aus grundlegend anderer Perspektive. Für ihn besteht ein geistiges «Urbild» des Menschen jenseits von dessen irdisch-biologischer Verkörperung. Dieses geistige Urbild stellt für die schrittweise erfolgende physische Verkörperung des Menschen die maßgebliche Orientierung dar. Zu verstehen ist dies ungefähr so, wie die Idee einer Erfindung deren äußerer Verwirklichung vorangeht und für deren Umsetzung zielführend ist. Menschenaffen und andere «Vorläufer» des Menschen sind, so betrachtet, vergleichbar den ungenügenden Vorformen einer technischen Erfindung. Die Idee des Erfinders wird erst nach vielen fehlgeschlagenen Versuchen schließlich in höchstmöglicher Präzision verwirklicht. Entsprechend kann die Tierreihe aufgefasst werden als eine Reihe von Versuchsformen, die leitende Idee des Menschen in angemessener Form zu realisieren. Die Mitgeschöpfe des Menschen bilden aus dieser Sicht eine Art verselbständigter und einseitig spezialisierter Abzweigungen des Menschen auf dem Weg zu sich selbst.
Der gleiche Unterschied der Betrachtungsweisen besteht, betrachtet man die Evolution des Menschen im Zusammenhang mit der Evolution der Erde, des Planetensystems, letztlich des Universums. Auch hier gilt: auf der einen Seite Urknall, Zufalls- und Selektions-gesteuerte Entwicklung. Auf der anderen Seite Verwirklichung verkörperter, lebendiger, beseelter Existenzformen des Menschen und der Erde im Sinne und auf der Grundlage geistig orientierender und leitender Ideen bzw. Urbilder, deren Wirklichkeit im Verhältnis zu den verkörperten Lebensformen Leitbildcharakter hat. Konkret bei Steiner: Geistige Vorformen der Erde («alter Saturn», «alte Sonne», «alter Mond») auf dem Weg zum physischen Erdenplaneten, wie wir ihn heute kennen – in einer Art lebendig-schöpferischem Entstehungsprozess und im Wechselverhältnis mit dem ebenfalls zunächst geistigen Entwurf des Menschen, der sich Stufe um Stufe zu dem Menschen entwickelt, der wir heute sind, und den Steiner in dem von ihm geschilderten Menschenbild umfassend zu beschreiben versucht.

Die «Vorfahren der Erde»:
Planetarischer Zustand I, «alter Saturn»: ein kosmisches Gebilde riesigen Ausmaßes (Umfang entsprechend der heutigen Umlaufbahn des Planeten Saturn), dessen Beschaffenheit dem nahekommt, was wir als «innere Wärme», «inneres Feuer», «innere Begeisterung» aus der seelischen Selbstbeobachtung kennen. Im Laufe der Entwicklung des so beschaffenen «Planeten» wandelt sich dessen Wärmedasein im Sinne heutiger Begriffe von rein innerer zu anfänglich äußerer (physikalisch sich äußernder) Wärme. Der «Mensch» auf dem alten Saturn ist mit und in diesem ein in sich differenziertes und sich jenem gegenüber zunehmend differenzierendes Wärmewesen. Auf dem «alten Saturn» wird der physische Leib der Erde und des Menschen veranlagt.

Planetarischer Zustand II, «alte Sonne»: Der Wärmeplanet beginnt zu leuchten. In sich vielfältig differenzierte Lichterscheinungen auf der älteren Wärmegrundlage kennzeichnen die von Steiner dargestellte alte Sonne. Mit und in ihr tritt der Mensch auf als ein (gasartiges) Wärme-Licht-Wesen. Wie auf dem alten Saturn zuletzt Wärme auftritt vergleichbar der uns heute bekannten physischen Wärme, so treten auf der alten Sonne erste Lebenserscheinungen auf, die im Wärmelicht derselben ihren Ausdruck finden: gleichsam keimendes, erblühendes Licht contra verglimmendes, verlöschendes Licht. Steiner spricht in verschiedenen Zusammenhängen von der «Lebenssonne». Der Äther- oder Lebensleib wird veranlagt.

Planetarischer Zustand III, «alter Mond»: Zu Wärme und Licht-Luft als Grundsubstanzen von Planet und Mensch kommt «Wasser» hinzu. Aus diesen drei Bestandteilen bildet sich das Leben dieses «Planeten». Die auf deren Grundlage sich weiter differenzierenden Gebilde werden Träger erster seelischer Regungen, so auch der in entsprechender Vorform auftretende Mensch. Gegenseitiges, seelisch bedingtes Anziehen und Abstoßen der Geschöpfe des alten Mondes rufen äußere Bewegung und Veränderung hervor, die den seelischen Bewegungen entsprechen und äußeren Ausdruck verleihen. Gegen Ende dieses Zustandes dominiert eine sich ständig ändernde, in sich bewegliche Formenvielfalt der Mondgeschöpfe, die ihrerseits den sich wandelnden seelischen Regungen unterliegt. Auf dem «alten Mond» wird der Astral- oder Seelenleib angelegt.

Jeder der geschilderten «Planetenzustände» verläuft in unterscheidbaren Phasen. Die jeweils erste Phase bildet eine Art Wiederholung des vorangegangenen Gesamtzustands. Zwischen den «planetarischen Verkörperungen» findet Steiner zufolge jeweils eine Art schlafähnlichen Übergangszustands statt.
Auf den alten Mond schließlich folgt der vierte planetarische Zustand, derjenige der eigentlichen Erde, der von Steiner im Zusammenhang mit der Entwicklung des Menschen ausführlich beschrieben wird (Aspekte dazu im 9.Vortrag dieses Bandes, „Der innere Aspekt der Erdenverkörperung des Erdplaneten“).
Der Mensch durchläuft auf der Erde, so Rudolf Steiner, sogenannte «Kulturepochen» oder
«Kulturperioden», die unter anderem dazu dienen, die menschlichen Leibes- und Seelenglieder nach und nach im verkörperten Zusammenhang auf der Erde eigenständig hervorzubringen und zu entwickeln. Nach der entsprechenden Namensgebung befinden wir uns gegenwärtig in der «fünften nachatlantischen Kulturperiode», auch bezeichnet als «Zeitalter der Bewusstseinsseele». Damit wird darauf hingewiesen, daß in dieser Epoche insbesondere die Qualitäten und Eigenschaften der Bewusstseinsseele des Menschen zur Entfaltung kommen.

aus: Rudolf Steiner, Anthroposophie – Die Mitte des Menschen, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2011, Hrsg. N.Rohlfs, S. 17 ff.